Hera Lind studierte Germanistik, Musik und Theologie und war Sängerin, bevor sie mit zahlreichen Romanen sensationellen Erfolg hatte. Seit einigen Jahren schreibt sie ausschließlich Tatsachenromane, ein Genre, das zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Mit diesen Romanen erobert sie immer wieder die SPIEGEL-Bestsellerliste. Hera Lind lebt mit ihrem Mann in Salzburg, wo sie auch gemeinsam Schreibseminare geben.
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Neumünster, 16. Oktober 2010
»Nebenan! Trauen Sie sich ruhig, er beißt nicht!«
Die nette weißblonde Pflegerin im hellblauen Kittel hatte alle Hände voll zu tun. Sie wies mit dem Kinn auf die nächste Tür in dem Pflegeheim, das ich zaghaft betreten hatte. Jahre hatte ich intensiv nach meinem Bruder gesucht. Er hatte uns alle in die Katastrophe gestürzt, aber nicht mit Absicht. Nein, Lotte, er konnte nie etwas dafür!, sprach ich mir Mut zu.
Vorsichtig klopfte ich an. Die Tür war nur angelehnt. Wie von Geisterhand öffnete sie sich einen Spalt. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln und altem Mann ließ mich erschaudern.
Ich atmete tief durch. Jetzt war der Moment gekommen, auf den ich über dreißig Jahre gewartet hatte. Jetzt würde ich ihn alles fragen können.
Noch einmal klopfte ich zaghaft, um ihn nicht zu erschrecken. Möglicherweise schlief er ja?
Sanft schwang die Tür vollends auf. Ich straffte die Schultern und hielt die Luft an.
»Hallo Bruno? Ich bin’s, Lotte!«
Ein Bett mit Schutzgitter, ein Schrank, ein Nachttisch. Über dem Bett ein Galgen. Die Wände in Beige gehalten. Ein Kaktus, eine Schnabeltasse, ein Teller mit bräunlich angelaufenen Apfelschnitzen.
Am Fenster stand ein Rollstuhl. Darin saß ausgemergelt ein alter Mann mit spärlichem weißen Haar und starrte ins Leere. Seine faltige Haut war grau.
»Bruno?«
Fassungslos sank ich vor diesem Häuflein Elend auf die Knie. Mein Herz hämmerte.
Nein. Ich hatte mir vieles ausgemalt, aber nicht das hier.
Mühsam hob der verhärmte Mensch, der mein Bruder sein sollte, den Kopf. Aus seinem halb offenen Mund kam ein Laut des Erstaunens.
Seine glanzlosen Augen hatten Mühe, meinen Blick zu halten. Dann verzogen sich seine schmalen Lippen zu einem Lächeln. Hatte er mich erkannt?
»Bruno? Ja, da staunst du, was? Ich bin’s, deine Schwester Lotte!«
Aus seinem Mundwinkel seilte sich ein Speichelfaden ab. Er versuchte, den Arm zu heben, um ihn abzuwischen, aber es gelang ihm nicht. Schnell griff ich nach einem Handtuch, das über der Stuhllehne hing.
»Du machst ja Sachen!« Ich tupfte an ihm herum wie eine Mutter an ihrem Kind.
Sekundenlang starrten wir uns an. Plötzlich begann seine Unterlippe zu zittern, und aus seinen trüben Augen kamen kleine Rinnsale, die durch sein ausgemergeltes Gesicht pflügten und in seinem ungepflegten Bart versickerten. Er war sichtlich bewegt.
»Bruno, es hat Ewigkeiten gedauert, bis ich dich gefunden habe!«, quasselte ich los. Bloß nicht selbst losheulen jetzt! »Kein Mensch wusste, wo du steckst, und Paul meinte – du weißt doch noch, wer Paul ist, nicht wahr? Mein Mann! Also Paul meinte, übers Internet müsste es doch möglich sein, dich zu finden. Schließlich warst du mal berühmt!«
Ich biss mir auf die Lippe. Offensichtlich war er es jetzt nicht mehr. Kein Mensch scherte sich noch darum, wer Bruno Alexander einmal gewesen war. Ein berühmter, erfolgreicher Geiger, der ganze Konzertsäle gefüllt hatte und den wir im Fernsehen bewundert hatten.
»Wir haben dich gegoogelt, aber nichts Aktuelles über dich gefunden …«
Wie denn auch. Mein Bruder Bruno war seit Jahren eine gescheiterte Existenz. Nur durch die spärlichen Auskünfte seiner inzwischen erwachsenen Kinder, die nichts mehr von ihm wissen wollten, waren wir schließlich auf die Idee gekommen, sämtliche Pflegeheime abzutelefonieren, die in der Nähe seines letzten bekannten Wohnsitzes lagen. Und so waren wir auf dieses hier gekommen. Hier war mein armer Bruder also gestrandet.
Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich ganz nah zu ihm. Seine mageren Beine steckten in alten Jogginghosen, denen ein eindeutiger Geruch entströmte. Die Pflegerin hatte mir schon gesagt, dass er Windeln trage. Mein Blick glitt zu seinen Füßen hinunter, die in offenen Gummisandalen steckten. Seine Zehennägel waren gelb und verbogen. Ein verwahrlostes Bündel Einsamkeit und Elend vegetierte hier vor sich hin. Wie hatte Bruno nur so tief sinken können … und warum hatte er alle Menschen verloren, die ihn einmal geliebt hatten?
Eine Welle von Scham und Reue überzog mich. Viel zu lange hatte ich damit gewartet, ihn endlich zu finden! Warum hatte ich nur so lange gezögert! Weil ich ein Wiedersehen mit ihm fürchtete. Weil ich Angst davor hatte, die ganze Wahrheit zu erfahren. Weil ich mit mir und meiner Familie vollauf beschäftigt gewesen war.
Ich nahm seine magere Hand. »Bruno, es tut mir leid, dass es so weit mit dir gekommen ist. Deine Exfrau Kati wollte gar nicht mit mir reden, aber sie hat auch nicht wirklich gewusst, wo du abgeblieben bist. Ihr habt ja seit Jahren keinen Kontakt mehr oder?«
Bruno schwieg. Sein Blick war gesenkt.
Ich räusperte mich. »Und deine Kinder waren auch nicht sehr kooperativ.«
Brunos Stirnfalte zwischen den buschigen Augenbrauen vertiefte sich. Okay. Vermintes Gelände. Kati und die Kinder vielleicht nicht weiter ansprechen.
Ich fühlte mich, als hätte ich mit einer Axt auf ihn eingedroschen. Oje. Das hatte ich doch nicht gewollt! Aber so ganz unschuldig war Bruno auch nicht am Zerfall unserer Großfamilie. So harmlos wie möglich plauderte ich weiter.
»Bereits vor Jahren habe ich immer mal wieder bei verschiedenen Behörden angerufen und die Einwohnermelderegister durchforstet, aber du warst nirgendwo mit einem festen Wohnsitz gemeldet. Und dann kam immer wieder was anderes dazwischen, du erinnerst dich vielleicht, dass Paul und ich zwei Töchter haben … Bruno?«
Er hatte die Augen geschlossen, und sein Kopf war zur Seite gefallen. Schluss mit diesem sinnlosen Geplapper! Das klang ja alles nach Vorwürfen, und das wollte ich doch nicht. Ich wollte nur die erste Verlegenheit überspielen und meine Aufregung auch! Schließlich hämmerte mir das Herz bis zum Hals, und meine Beine zitterten wie Espenlaub, als stünde ich ganz allein auf einer großen Bühne und hätte meinen Text vergessen.
Allein die Vorstellung, den eigenen Bruder nach so langer Zeit in so einem hilflosen Zustand wiederzufinden und dann sofort auf alle Fragen eine Antwort haben zu wollen!
Erschöpft sank ich auf meinem Stuhl in mir zusammen. Die lange Bahnreise vom Chiemsee bis in diese norddeutsche Kleinstadt hatte mich ermüdet. Ich hatte vier Mal umsteigen müssen.
Bruno, dachte ich erschüttert. Du kannst gar nicht mehr richtig sprechen, wie es scheint. Wie naiv war ich eigentlich, davon auszugehen, dass du mir jetzt lückenlos dein ganzes Leben erzählen würdest. Ich atmete tief durch und zwang mich zu Geduld.
Minutenlang hielt ich einfach schweigend seine Hand, die Hand eines Bruders, von dem nur noch diese alte kaputte Hülle übrig war. Vergeblich suchte ich nach Ähnlichkeiten zu früher.
Das also war Bruno. Mein einst heiß geliebter, mutiger, schöner, übermütiger, lebenshungriger großer Bruder. Unsere Mutter und wir vier Schwestern hatten ihn vergöttert, uns darum gerissen, wer ihm vor seinen Auftritten die Schuhe putzen durfte, waren im Konzertsaal vor Stolz und Rührung regelrecht hinweggeschmolzen. Hatten uns die Hände wund geklatscht, seinen Erzählungen gelauscht wie eine fromme Gemeinde dem Pfarrer in der Kirche. Hatten uns vor Lachen gebogen, wenn er heimlich zu Hause den Genossen Honecker nachmachte. Bis er unser Leben durch eine einzige, unüberlegte verrückte, nein, völlig wahnsinnige Aktion aus den Fugen gerissen, um nicht zu sagen zerstört hatte: Bruno hatte unsere Familie für immer zerstört.
Und doch empfand ich nichts als Liebe für ihn. Wie gesagt, er konnte schließlich nichts dafür, hatte das zumindest so nie beabsichtigt und war an seinen Schuldgefühlen regelrecht zerbrochen. Er hätte alles dafür gegeben, es rückgängig zu machen. Doch das ging nicht mehr. Er hatte nicht mehr lange zu leben. Aber die Zeit, die ihm noch blieb, wollte ich mit ihm teilen. Darum war ich hier. Ich hatte es unserem Vater auf dem Sterbebett versprochen. Dass ich nach ihm suchen und ihn nie mehr im Stich lassen würde.
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Sanft streichelte ich seine Hand, bat ihn im Stillen um Verzeihung.
»Bruno, wir sitzen alle seit Jahren in Bayern, und da finde ich dich ausgerechnet im nördlichsten Zipfel Deutschlands! Was hat dich nur hierher verschlagen?«
Keine Antwort. Mein Bruder konnte oder wollte nicht mehr sprechen.
Hastig kramte ich in meiner Handtasche nach einem Taschentuch. Schnäuzte hinein, zerknüllte es in meinen schweißnassen Fingern.
»Du hast immer nur aus Liebe gehandelt, Bruno, das weiß ich! Auch wenn dann alles komplett schiefgelaufen ist.«
Bruno reagierte nicht mehr. Die Last der Erinnerungen schien ihn wie ein Erdrutsch begraben zu haben. Er stellte sich tot. Sein Atem ging schwach. Trotzdem: Immerhin hatte ich ihn überhaupt noch lebend gefunden!
Fast eine Stunde saß ich bei ihm, nahm jede Falte, jedes Haar und jeden Bartstoppel in mir auf und ließ unsere gemeinsame Vergangenheit vor meinem inneren Auge vorbeiziehen.
»Weißt du noch, wie wir zusammen auf dem Elefanten geritten sind?« Ich stupste ihn an. »Die dicke Berta!«
Ein winziges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Seine Mundwinkel zuckten wie bei einem schlafenden Säugling. Dann entglitten ihm die Gesichtszüge wieder, und mit halb geschlossenen Lidern starrte er ins Nichts.
Schließlich stand ich leise auf, schlich mich aus dem Zimmer und zog sanft die Tür hinter mir zu.
Die Pflegerin machte sich gerade an einem Rollwagen mit Medikamenten, Schnabeltassen, Windeln und Bettpfannen zu schaffen. Im Flur schlurften ein paar alte Menschen mit Rollatoren auf und ab. An der Wand saßen weitere Insassen in Rollstühlen und stierten vor sich hin. Weiter hinten...
Erscheint lt. Verlag | 22.4.2019 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Deutsche Teilung • eBooks • Elefant • Erfurt • Familienbande • Familiensaga • Flucht • Mauer • Ost-West Geschichte • Tatsachenroman • Trabi • Verlorener Bruder • zoo |
ISBN-10 | 3-641-20313-9 / 3641203139 |
ISBN-13 | 978-3-641-20313-9 / 9783641203139 |
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