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Über die Dummheit der Stunde (eBook)

Essays
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
304 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403540-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Über die Dummheit der Stunde -  Olga Martynova
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»Wir sehen die Gegenwart gar nicht. Noch nicht.« In welcher Zeit leben wir? Was verändert sich gerade, in Deutschland, in Europa, weltweit? Kann Literatur überhaupt etwas zur Erkenntnis der Gegenwart beitragen? Welche Rolle spielt die Vergangenheit dabei? Und sollte die Literatur wieder politischer werden? Olga Martynova reist ins heutige Jerusalem und zurück in die Sowjetunion der achtziger Jahre. Sie trifft Künstler und Intellektuelle auf der Krim, und immer wieder wirft sie die Frage auf, wie heutige Literatur den Schrecken des 20. Jahrhunderts gerecht werden kann. Im Reisegepäck hat sie dabei Autoren wie Joseph Brodsky und Paul Celan, Ossip Mandelstam und Ovid. Olga Martynovas Essays sind hellwach und hoch reflektiert. Es sind literarische Grenzgänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit, sensible Momentaufnahmen unserer unruhigen Welt.

Olga Martynova, geboren 1962 in Sibirien, aufgewachsen in Leningrad, wo sie in den 1980er-Jahren die Dichtergruppe »Kamera Chranenia« mitbegründete. 1991 zog sie zusammen mit Oleg Jurjew (1959-2018) nach Deutschland. Von 1999 an schrieb sie literarische Texte auf Russisch und Deutsch. Seit 2018 schreibt sie nur noch in deutscher Sprache. Olga Martynova ist Vizepräsidentin der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, außerdem Mitglied des PEN und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz). Sie erhielt u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis (2012) und den Berliner Literaturpreis (2015). Zuletzt erschienen von ihr bei S. FISCHER: »Der Engelherd« (Roman, 2016), »Über die Dummheit der Stunde« (Essays, 2018), »Gespräch über die Trauer« (2023) und »Such nach dem Namen des Windes« (Gedichte, 2024).

Olga Martynova, geboren 1962 in Sibirien, aufgewachsen in Leningrad, wo sie in den 1980er-Jahren die Dichtergruppe »Kamera Chranenia« mitbegründete. 1991 zog sie zusammen mit Oleg Jurjew (1959–2018) nach Deutschland. Von 1999 an schrieb sie literarische Texte auf Russisch und Deutsch. Seit 2018 schreibt sie nur noch in deutscher Sprache. Olga Martynova ist Vizepräsidentin der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, außerdem Mitglied des PEN und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz). Sie erhielt u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis (2012) und den Berliner Literaturpreis (2015). Zuletzt erschienen von ihr bei S. FISCHER: »Der Engelherd« (Roman, 2016), »Über die Dummheit der Stunde« (Essays, 2018), »Gespräch über die Trauer« (2023) und »Such nach dem Namen des Windes« (Gedichte, 2024).

Es ist tatsächlich eines der hilfreichsten Bücher, die man sich angesichts der bis ins Heimatministerielle hochgepushten Debatten über das Eigene und das Fremde vornehmen kann.

Das Lesen dieses Buch ist ein lehrreiches intellektuelles und poetisches Vergnügen.

Die Schriftstellerin legt einen vielschichtigen Essayband über mediale Zuspitzungen, die Macht der Kunst und Identität zwischen Russland und Deutschland vor.

[…] Martynova ist eine gute Beobachterin mit viel Sinn für die Absurdität der von Russland ›befreiten‹ Krim.

Das neue alte Moskau: Die gefundene Zeit


(Herbst 2005, Biennale der Dichter)

Von Leningrad her gesehen war Moskau eine Anhäufung grauer Formen um den postkartenroten Kreml, bedrohlich und fast unbewohnbar, obwohl dicht bewohnt. Man bestritt zwar nicht, dass die Moskauer Boulevards in warmen herbstlichen Tagen von einer gewissen Lieblichkeit waren und einige Häuser nicht ohne morsche Eleganz, aber insgesamt: Für mich war das eine triste Stadt, die nie wieder so sein würde, wie sie – schenkt man den Büchern Glauben – einst war. Im 19. Jahrhundert galt Moskau als ein schläfriges Nest paschaähnlicher Grundbesitzer und langbärtiger Kaufleute. Der scharfzüngige Liberale und spätere politische Emigrant Alexander Herzen schrieb 1840, Moskau, die gigantische Wucherung eines reichen Marktfleckens, habe sich Russlands weniger dank der eigenen Vorzüge bemächtigen können als vielmehr aufgrund dessen, dass die anderen Teile Russlands einen noch größeren Mangel an Vorzügen gehabt hätten. Das damals hauptstädtische Petersburg war für ihn einerseits zu hart und kalt, andererseits erfrischend munter und sachlich: »In Petersburg sind alle Menschen insgesamt und jeder einzelne insbesondere hundsmiserabel. Petersburg kann man nicht lieben, jedoch fühle ich so, dass ich in keiner anderen Stadt Russlands leben würde«, schrieb er und ließ sich in London nieder.

Nun bin ich nach fünfzehn Jahren zum ersten Mal wieder nach Moskau gekommen: Mein Mann, Oleg Jurjew, und ich waren zum Poesiefestival »Biennale der Dichter« eingeladen.

Auf vieles waren wir gefasst, nur darauf nicht: Trotz allem sieht man heute, was man lange Zeit nur aus der Literatur wusste: Moskau ist eine nahezu gemütliche, geschäftige und sich amüsierende Handelsmetropole und nicht die gravitätische Hauptstadt einer Weltmacht, als die es seit 1918, als die Kommunisten den Regierungssitz aus Petrograd nach Moskau verlegt hatten, missbraucht wurde. Moskau löst allmählich die sowjetische Maske ab von seinem Gesicht. Ich kenne keine andere Stadt, der die Straßenwerbung so gut steht. Auch die emsig verschnörkelten Springbrunnen, neuen Türme und Türmchen und die heiligen George. Auch die neuen Denkmäler überall, die zu errichten eine Volkskrankheit zu sein scheint: Puschkin und seine Frau Natalie in einer Gartenlaube aus Gusseisen und Gold; der Liedermacher Wysozky mit Gitarre; Sergej Jessenin mit einem winzigen Pegasus zu seinen Füßen. Und es gibt sogar ein Denkmal für einen Schmelzkäse. Nichts ist dem Moskau von heute zu kitschig, es lebt jenseits von solchen Begriffen.

Als Petersburgerin werde ich oft wegen des Antagonismus zwischen Moskau und Leningrad/Petersburg angesprochen. »O nein«, antworte ich, »auch in Moskau kommt einmal in fünfzig Jahren ein guter Dichter zur Welt.« Das ist Smalltalk. Aber in den 60er Jahren wurden in Moskau Jewtuschenko und Wosnessenskij zu Ausstellungsstücken der sowjetischen Kulturpolitik, während der künftige Nobelpreisträger Joseph Brodsky in Leningrad als Schmarotzer verurteilt wurde. In Petersburg leben einige Dichter immer noch von den legendären Undergroundjobs: Nachtwächter, Wächter, Heizer. In Moskau hilft man einander bereitwilliger (und erwartet auch die Gegenleistung). Im 19. Jahrhundert war die Rede von Petersburger Sachlichkeit und Moskauer Idealismus. Seit 1918 ist es genau umgekehrt. Eine Hauptstadt bietet mehr Möglichkeiten, geschäftstüchtig zu sein. Aber ohne die Sowjetmacht wirkt die Moskauer Tüchtigkeit viel sympathischer. Unsere jungen Dichterkollegen aus Moskau scheinen echtere Moskauer zu sein als die unseres Alters.

Von Wenitschkas Denkmal zum Roten Platz


Eine Moskauer Geste, einladend, etwas gleichgültig, die (im Unterschied zu dem Petersburger kühlen und wählerischen Getrenntsein) zur Bildung einer warmen, lockeren Gemeinschaft führt. Wir folgen der Geste und schließen uns nach der Eröffnungsveranstaltung einer etwa zwanzigköpfigen Schar an. Anreger des nächtlichen Marsches ist der achtundzwanzigjährige Autor Danila Dawydow. Wir gehen zum Denkmal für Wenedikt Jerofejew, das aber nicht ihn, den legendären Schöpfer einer Moskauer Saufsaga, »Reise nach Petuschki«, darstellt, sondern seinen Helden Wenitschka und dessen Liebste. Jedes Mal, wenn Wenitschka zum Roten Platz will, findet er sich am Kursker Bahnhof wieder und fährt nach Petuschki, wo seine Geliebte wohnt. Erst sollte der schlotterige Wenitschka in seinem zerknitterten Anzug am Kursker Bahnhof stehn und seine kerzengerade Schöne mit dem auf den üppigen Busen geworfenen Zopf – in Petuschki. Die Verwaltung der Russischen Bahn meinte jedoch, das sei Propaganda für den Alkoholismus, und lehnte die sichere Geldquelle ab, die die Pendelwallfahrt gewesen wäre. Auch gut. So erspart man sich die 120 Kilometer lange Fahrt ins Blaue, wer will, kann ja auch blau werden, ohne Moskau zu verlassen. Aber niemand ist besoffen. Unterwegs wurde in einem Lebensmittelladen (sie haben beinah alle rund um die Uhr auf) eingekauft: Bier, Saft, Gin-Tonic-Dosen. Gesprächfetzen: Balladen haben Aussicht auf Erfolg./Ich schicke dir das Gedicht morgen als SMS./Nein, ich meine das gesamte Bild. Ein Milizwagen mit geöffneten Fenstern fährt langsam vorbei, hört zu, kein Interesse, verlässt den Platz.

Plötzlich hasten alle: Die U-Bahn schließt in Kürze. Niemand zieht in Erwägung, ein Taxi zu nehmen, Poeten leben bescheiden, selbst im reichen Moskau. Noch absurder aber wäre für einen Moskauer die Idee, zu Fuß zu gehen, selbst bei kleinsten Entfernungen. Unser Hotel ist ja am Roten Platz, und der Geist des Kursker Bahnhofs schwebt drohend vor uns. Nach einigem Kreisen fragen wir einen neben seinem Auto rauchenden Taxifahrer nach dem Hotel »Rossija«. »Na, da schaunse ma hoch«, sagt er. Am Himmel steht in roten Lettern »ROSSIJA«.

Vom Roten Platz zur Biennale der Dichter


Die Lyrikerin Natalja Gorbanewskaja war eine der wenigen, die 1968 am Roten Platz gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei protestierten. Sie lebt seit 1976 in Paris. »Na, wie gefällt dir dieser Graus?« – Eine alte Freundin von ihr zeigte mit etwas wie masochistischem Stolz auf die originalgetreu wiedererrichtete Erlöserkathedrale (jahrzehntelang jammerten die Moskauer, dass ihnen die Kirche weggesprengt worden war, nun sind sie sauer, dass das Gebäude kein Meisterwerk ist) und auf die Schiffsegel des taktlosen Denkmals für Peter den Großen, der Moskau einst seine Bedeutung wegnahm. Der Bildhauer, Surab Zereteli, verschenkt Früchte seiner übernatürlichen Produktivität gegen den Willen (und Widerstand) der Bescherten und ist der Schreck der Städte. Wenn ich sage, dass ihm manches, z.B. Gogol in Rom, gelungen sei, riskiere ich nichts: Alle nehmen an, das sei ein snobistischer Scherz von mir. »Wunderschön«, antwortet Natalja Gorbanewskaja, die als gelernte Dissidentin nicht zu Verklärungen neigt: »Schau, wie haben die Pariser über den Eiffelturm oder das Centre Pompidou geschimpft! Und heute sind sie allen lieb!« (Möge so auch die trockene preußische Eleganz Berlins den Potsdamer Platz liebevoll kaschieren, denke ich dabei.)

»Ich war heute bei sechs Lesungen!«, sagt ein junger Mann am späten Abend in einem der vielen Moskauer Café-Clubs. Unser Biotop damals, im Frost der spätsowjetischen Epoche, waren die Wohnungsküchen, wo bis weit nach Mitternacht gesprochen wurde, nicht Cafés und Restaurants. Heute sind sie voll von jungen Menschen, Studenten: Fünf Mädchen an einem Tisch streiten heftig, wie man das lateinische »C« aussprechen muss: Zizero oder doch Kikero; eine der Freundinnen, beeindruckt von ihrer Italienreise, schlägt Tschitschero vor.

Der Eintritt zu den Lesungen ist gratis und oft auch das Büfett (für meinen Geschmack bekommen die Jungs zu viel Wodka, aber der einzige private Sponsor der Biennale der Dichter ist ein Spirituosenkonzern, der den Wodka »Stichotwornaja« – wörtlich: Versschöpferischer – zur Verfügung stellt, alles andere finanziert die Moskauer Regierung). Die Tür ist immer offen, alle kommen und gehen, das scheint niemanden zu stören. Die Moderatorin sagt, bevor der deutsche Lyriker Gerhard Falkner die Bühne besteigt: »Schalten Sie bitte Ihre Handys aus, unsere deutschen Gäste sind daran nicht gewöhnt.«

Zur Sowjetzeit schienen die Emigranten ins Jenseits zu gehen, über den Styx. Die im Diesseits Gebliebenen hatten zwar ein riesiges Territorium um sich, ein Sechstel des Festlandes, wie es hieß, waren aber doch eingesperrt, wohin auch immer sie sich auf diesem Sechstel begaben, zu den Schlössern des Baltikums, zu den Minaretten Samarkands oder den buddhistischen Klöstern am Baikalsee. Nach der Wende begann eine Bewegung in alle Himmelsrichtungen. Aber viele sind ins Ausland geraten, ohne sich vom Fleck zu rühren: in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Nicht nur die dort lebenden Russen schreiben Russisch, auch Usbeken, Armenier oder Ukrainer. Man fühlt sich erinnert an die späte und posthume k.u.k.-Kultur: an das Aufblühen der deutschsprachigen Literatur in Böhmen und Mähren oder in der Bukowina. Nicht zufällig ist die Donaumonarchie heute ein Modethema in Russland.

Die Anthologie »Der befreite Ulysses« umfasst 244 im Ausland lebende russische Lyriker aus 26 Ländern. 21 von ihnen kamen zur...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2018
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Konflikt • Krim • Krise • Putin • Russland • Ukraine
ISBN-10 3-10-403540-7 / 3104035407
ISBN-13 978-3-10-403540-6 / 9783104035406
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