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Der falsche Überlebende (eBook)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
496 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403601-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der falsche Überlebende -  Javier Cercas
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Eine spannende Geschichte über Lüge und Leben, Fiktion und Wahrheit von einem der bedeutendsten Schriftsteller Spaniens. Medienwirksam hat sich der Katalane Enric Marco 30 Jahre lang als Überlebender des deutschen Konzentrationslagers Flossenbürg ausgegeben, hat sein Leiden öffentlich erzählt, war Präsident der Vereinigung der ehemaligen spanischen KZ-Häftlinge. Doch 2005 kam es zum Skandal, als ein Historiker aufdeckte, dass seine Geschichte eine Lüge war. Wenige Tage zuvor noch hatte Marco im spanischen Parlament eine bewegende Rede zum bevorstehenden 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Mauthausen gehalten. Tatsächlich aber war er 1941 freiwillig nach Deutschland gegangen, im Rahmen einer Vereinbarung zwischen Spanien und Hitler-Deutschland, um in einer Kieler Werft zu arbeiten und so dem spanischen Kriegsdienst zu entgehen. In einem KZ war er nie gewesen. Was trieb Marco dazu, dieses Lügengebäude zu erschaffen, an dem er selbst nach seiner Entlarvung festhielt? Zögerlich und doch fasziniert bewegt Javier Cercas einen Stein nach dem anderen und guckt hinter die Fassaden: auch hinter seine eigene und die seines Landes. »Enric Marcos Krankheit ist die unserer Zeit, in der die Wahrheit weniger wert ist als der Schein.« Mario Vargas Llosa

Javier Cercas, geboren 1962 in Ibahernando in der spanischen Extremadura, lebt als Schriftsteller, Publizist und Universitätsdozent in Girona. Mit seinem Roman »Soldaten von Salamis« wurde er international bekannt. Heute ist sein Werk in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Für »Der falsche Überlebende« (S. Fischer 2017), erhielt er u.a. den Prix du livre européen 2016 und den chinesischen Taofen-Preis 2015 für das beste ausländische Buch. Sein Roman »Terra Alta« wurde mit dem Premio Planeta 2019 ausgezeichnet. Zuletzt erschienen »Die Erpressung. Terra Alta 2« (2022) und der abschließende Band der Terra-Alta-Trilogie »Blaubarts Burg« (2023).

Javier Cercas, geboren 1962 in Ibahernando in der spanischen Extremadura, lebt als Schriftsteller, Publizist und Universitätsdozent in Girona. Mit seinem Roman »Soldaten von Salamis« wurde er international bekannt. Heute ist sein Werk in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Für »Der falsche Überlebende« (S. Fischer 2017), erhielt er u.a. den Prix du livre européen 2016 und den chinesischen Taofen-Preis 2015 für das beste ausländische Buch. Sein Roman »Terra Alta« wurde mit dem Premio Planeta 2019 ausgezeichnet. Zuletzt erschienen »Die Erpressung. Terra Alta 2« (2022) und der abschließende Band der Terra-Alta-Trilogie »Blaubarts Burg« (2023). Peter Kultzen, geboren 1962 in Hamburg, studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.

Diese akribische Recherche liest sich wie ein Spionagethriller […] Cercas häutet die Zwiebel Schicht für Schicht.

Das hat Sogwirkung.

Javier Cercas ist zurzeit der wichtigste politische Autor Spaniens.

Wie Cercas nicht nur literarisch, sondern auch historisch, psychologisch und philosophisch Schicht um Schicht freilegt, […] lohnt sich zweifellos zu lesen.

Erster Teil Die Zwiebelschale


1


Ich wollte dieses Buch nicht schreiben. Warum ich es nicht schreiben wollte, wusste ich nicht genau, oder vielleicht wusste ich es, wollte es aber nicht zugeben, oder ich traute mich nicht, es zuzugeben – oder nicht ganz. Jedenfalls weigerte ich mich mehr als sieben Jahre lang, dieses Buch zu schreiben. In dieser Zeit schrieb ich zwei andere Bücher, vergaß darüber aber dieses Buch nicht. Oder vielmehr schrieb ich, während ich die beiden anderen Bücher schrieb, in gewisser Weise auch dieses Buch. Oder vielleicht schrieb dieses Buch in gewisser Weise mich.

Die ersten Absätze eines Buches schreibe ich immer zuletzt. Dieses Buch ist jetzt fertig. Dieser Absatz ist der letzte. Und weil er der letzte ist, weiß ich nun auch, warum ich dieses Buch nicht schreiben wollte. Ich wollte es nicht schreiben, weil ich Angst hatte. Das wusste ich von Anfang an, wollte es aber nicht zugeben oder traute mich nicht, es zuzugeben, jedenfalls nicht ganz. Erst jetzt weiß ich, dass meine Angst berechtigt war.

 

Ich lernte Enric Marco im Juni 2009 kennen, vier Jahre nachdem er sich in den großen, allseits verfluchten Betrüger verwandelt hatte. Viele werden sich noch an seine Geschichte erinnern. Marco war 1921 in Barcelona zur Welt gekommen und hatte fast dreißig Jahre lang behauptet, er sei einst nach Hitlerdeutschland deportiert worden und habe das KZ überlebt. Außerdem war er drei Jahre der Vorsitzende der Amical de Mauthausen gewesen, also der Vereinigung der ehemaligen spanischen KZ-Häftlinge, hatte Hunderte Vorträge gehalten und Dutzende Interviews gegeben, wichtige öffentliche Auszeichnungen erhalten und im Namen seiner angeblichen Leidensgenossen vor dem spanischen Parlament gesprochen, bis Anfang Mai 2005 herauskam, dass er niemals deportiert worden und auch niemals KZ-Häftling gewesen war. Aufgedeckt wurde es von einem nahezu unbekannten Historiker mit Namen Benito Bermejo, und zwar unmittelbar vor der Gedenkfeier zum sechzigsten Jahrestag der Befreiung der NS-Konzentrationslager im ehemaligen KZ Mauthausen, an der zum ersten Mal auch ein spanischer Ministerpräsident teilnehmen sollte. Marco wäre dabei eine wichtige Rolle zugefallen, auf die er durch die Aufdeckung seines Betrugs jedoch im letzten Augenblick verzichten musste.

Als ich Marco kennenlernte, hatte ich gerade Anatomie eines Augenblicks veröffentlicht, mein zehntes Buch, aber gut ging es mir damals nicht. Warum, war mir selbst nicht klar. Meine Familie schien glücklich, das Buch war ein Erfolg. Mein Vater war gestorben, das stimmt, aber das war fast ein Jahr her, lange genug also, um seinen Tod zu verarbeiten. Irgendwann kam ich, wie auch immer, zu dem Schluss, das soeben veröffentlichte Buch sei schuld an meinem Zustand, nicht (oder nicht nur) weil ich durch die Arbeit daran körperlich und geistig so erschöpft war – mein Zustand rührte vielmehr (oder vor allem) daher, dass es ein so seltsames Buch war, eine Art Roman ohne Fiktion, eine hundertprozentig wahre Geschichte ohne jede erfundene oder ausgedachte Zutat, die sie leichter verdaulich gemacht hätte. Daran liegt es also, dass ich dermaßen fertig bin, sagte ich mir und fasste meine Erkenntnis in der ab sofort ständig wiederholten Formel zusammen: »Die Wirklichkeit bringt dich um, Rettung bringt nur die Fiktion.« Unterdessen kämpfte ich wenig erfolgreich gegen meine Angst und meine Panikattacken an, ging abends weinend zu Bett, stand morgens weinend auf und versteckte mich tagsüber, so gut ich konnte, um weiterweinen zu können.

Ich kam zu dem Schluss, dass mir nur die Arbeit an einem neuen Buch aus meiner Lage heraushelfen könne. Ideen dafür hatte ich genug, das Problem war, dass es sich zum Großteil um Ideen für Geschichten ohne Fiktion handelte. Allerdings hatte ich auch ein paar Ideen für fiktionale Geschichten, insbesondere drei: Die erste war ein Roman über einen Philosophieprofessor der Päpstlichen Universität Comillas, der sich Hals über Kopf in eine Pornodarstellerin verliebt und zuletzt nach Budapest fährt, um sie persönlich kennenzulernen, ihr seine Liebe zu erklären und um ihre Hand anzuhalten. Die zweite trug den Titel Tanga und sollte der Auftakt zu einer Krimireihe mit einem Detektiv namens Juan Luis Manguerazo werden. Die dritte hatte mit meinem Vater zu tun, den ich in der Eröffnungsszene wieder zum Leben erweckte, um anschließend in dem Restaurant El Figón in Cáceres, das schon in seiner Jugend existiert hatte, einmal mehr mit ihm zusammen Spiegeleier mit Chorizo und eine Portion Froschschenkel zu verschlingen.

Ich versuchte mich an jeder dieser drei ausgedachten Geschichten und scheiterte dreifach. Eines Tages setzte meine Frau mir ein Ultimatum – entweder ich bemühte mich um einen Termin bei einem Psychoanalytiker, oder sie reichte die Scheidung ein. Schleunigst suchte ich den Psychoanalytiker auf, den sie mir empfahl. Bei diesem handelte sich um einen so unnahbaren wie durchtriebenen Glatzkopf mit einem unmöglich zu bestimmenden Akzent – manchmal hielt ich ihn für einen Chilenen oder Mexikaner, manchmal für einen Katalanen oder sogar Russen –, der mir bei den ersten Treffen unaufhörlich Vorwürfe machte, dass ich gewissermaßen erst unmittelbar vor meinem endgültigen Abgang in seiner Praxis aufgetaucht sei. Ich habe mich zeitlebens über die Psychoanalytiker und ihre pseudowissenschaftlichen Hirngespinste lustig gemacht, aber es wäre gelogen zu behaupten, unsere Sitzungen hätten nichts gebracht. Zumindest hatte ich so einen Ort, an dem ich mich ungehemmt ausheulen konnte. Es wäre aber auch gelogen zu bestreiten, dass ich nicht nur einmal kurz davor war, mich von der Couch zu erheben und mit den Fäusten auf den Herrn Analytiker loszugehen. Dieser wiederum legte mir sogleich zwei Schlussfolgerungen nahe. Die erste lautete, schuld an meinem Unglück sei nicht mein Roman ohne Fiktion beziehungsweise meine hundertprozentig wahre Geschichte, sondern meine Mutter, was erklärt, weshalb ich beim Verlassen der Praxis des Öfteren von dem schier unwiderstehlichen Drang erfüllt war, sie zu erwürgen, sobald ich sie zu fassen bekäme. Die zweite Schlussfolgerung besagte, mein Leben sei eine bloße Farce und ich nichts als ein Schaumschläger, der sich die Literatur auserkoren habe, um ein freies, glückliches und unentfremdetes Leben zu führen, während ich in Wirklichkeit ein falsches, abhängiges und unglückliches Leben führte, und dass ich zwar den coolen Romancier spielte, der es draufhat und den Leuten erfolgreich etwas vormacht, in Wirklichkeit aber ein bloßer Betrüger war.

Die zweite Schlussfolgerung erschien mir zuletzt wahrscheinlicher – und weniger abgedroschen – als die erste. Durch sie erinnerte ich mich auch wieder an Marco, an Marco und ein schon länger zurückliegendes Gespräch über Marco, bei dem man mich als Betrüger bezeichnet hatte.

An diesem Punkt muss ich ein paar Jahre zurückgehen, genauer gesagt zu dem Augenblick, in dem Marcos Lügengebäude zusammenbrach. Der Skandal löste ein weltweites Echo aus, nirgendwo hinterließ die Aufdeckung von Marcos Betrug jedoch einen so starken Eindruck wie in Katalonien, wo Marco nicht nur geboren war und fast sein ganzes Leben zugebracht hatte, er war dort auch eine sehr bekannte und beliebte Persönlichkeit gewesen. Kein Wunder also, dass auch ich mich schon allein deswegen für den Fall interessierte. Aber ich tat es nicht nur deswegen, und dass ich mich »dafür interessierte«, greift zu kurz – ich interessierte mich nicht nur für den Fall Marco, mir kam vielmehr sofort die Idee, über Marco zu schreiben, so als spürte ich instinktiv, dass seine Geschichte mit mir zu tun hatte, was mich beunruhigte, ja eine Art Schwindel und ein nicht näher bestimmbares Unbehagen in mir hervorrief. Wie dem auch sei, solange der Skandal das beherrschende Thema in den Medien war, verschlang ich alles, was über Marco geschrieben wurde, und als ich herausfand, dass mehrere mir nahestehende Menschen Marco kannten oder gekannt oder der von ihm verkörperten Figur ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatten, lud ich sie alle zu mir zum Essen ein, um über Marco zu sprechen.

Dieses Essen fand Mitte Mai 2005 statt, also kurz nach Bekanntwerden des Skandals. Ich unterrichtete damals an der Universität Gerona und wohnte mit meiner Familie in einer Doppelhaushälfte mit Garten am Stadtrand. Soweit ich mich erinnere, nahmen außer meiner Frau und meinem Sohn meine Schwester Blanca und zwei Kollegen von der geisteswissenschaftlichen Fakultät daran teil, Anna Maria Garcia und Xavier Pla. Meine Schwester Blanca kannte Marco gut, Marco und sie hatten einige Jahre davor zum Vorstand der FAPAC gehört, einer Elternvereinigung, deren Vizepräsidenten beide jahrelang gewesen waren, Blanca für den Bezirk Gerona, Marco für den Bezirk Barcelona. Zur allgemeinen Überraschung schilderte Blanca ihren ehemaligen Vorstandskollegen während des Essens als reizenden, umtriebigen, charmanten und nie um eine witzige Bemerkung verlegenen älteren Herrn, für den es nichts Schöneres gab, als fotografiert zu werden. Und ohne auch nur im Geringsten zu verbergen, wie sympathisch der große, allseits verfluchte Betrüger ihr seinerzeit gewesen war, erzählte sie von ihren Treffen, den gemeinsamen Projekten, Reisen und Abenteuern. Anna Maria und Xavier kannten Marco nicht persönlich – oder bloß flüchtig –, hatten sich jedoch beide intensiv mit den Themen Holocaust und Deportation beschäftigt und...

Erscheint lt. Verlag 27.4.2017
Übersetzer Peter Kultzen
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Barcelona • Betrug • Betrüger • Deutschland • Enric Marco • Fiktion • Flossenbürg • Franco • Historiker • Hitler • Katalane • Katalonien • Kiel • Konzentrationslager • Lüge • Mauthausen • Schriftsteller • Skandal • Spanien • Spanischer Bürgerkrieg • Wahrheit • Werft
ISBN-10 3-10-403601-2 / 3104036012
ISBN-13 978-3-10-403601-4 / 9783104036014
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