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Doppelleben (eBook)

Eine Autobiographie

(Autor)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
304 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31646-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Doppelleben -  Carola Stern
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Ein wichtiges und mutiges Buch »Wer bin ich?« - diese Frage steht am Anfang und Ende dieser ungewöhnlichen Autobiografie. Carola Stern erzählt die Geschichte ihres Lebens, von Verstrickungen und Konflikten, Angst und Glück, Gelungenem und Misslungenem - aufrichtig, lebendig, ohne zu beschönigen und ohne abzurechnen. Aufgewachsen in der »Welt der Ja-Sager« auf der Insel Usedom, heuert die einstige Jungmädelführerin Erika Assmus nach Kriegsende in einem Raketeninstitut der Russen im Harz als Bibliothekarin an. Doch wenige Monate später erhalten die deutschen Spezialisten, die schon an der »Wunderwaffe des Führers« mitgearbeitet hatten, den Marschbefehl in die UdSSR. »Eka« bleibt in der damaligen SBZ, träumt vom kleinen beschaulichen Glück und lässt sich zur Lehrerin ausbilden. Doch dann taucht ein »Mr. Becker« vom amerikanischen Geheimdienst auf, und ihr Leben nimmt fortan einen ganz anderen Verlauf. Die Amerikaner versprechen, Ekas kranke Mutter medizinisch zu versorgen, Eka soll dafür in die SED eintreten. 1950 wird sie als hoffnungsvoller kommunistischer Nachwuchs auf die Parteihochschule geschickt. In einem Klima der Warnungen vor »Verschwörung« und »Verrat« lernt sie die kommunistischen Phrasen und Parolen, aber nicht den Glauben an die Partei, doch eines Tages wird sie denunziert. Sie flüchtet nach Westberlin, wo sie sich als Studentin bald einen Ruf als DDR-Expertin erwirbt. Unter dem Pseudonym Carola Stern beginnt sie zu schreiben und entgeht zwei Entführungsversuchen der Stasi. Sie wird Assistentin am Institut für Politische Wissenschaft, aber mit dem Leben in der freien Welt kommt sie nicht zurecht. Von einer tiefen Lebenskrise heimgesucht, erkennt sie, dass man lernen muss, mit der Angst zu leben. 1960 beginnt das dritte Leben der Carola Stern, ihre »besten Jahre«. Sie arbeitet für den Verlag Kiepenheuer & Witsch und wird dann Journalistin beim WDR. Mit den Heinemanns und Gollwitzers schließt sie Freundschaft, mit Gerd Ruge gründet sie amnesty international und mit Böll und Grass die Zeitschrift L 76. Als engagierte Publizistin trägt sie entscheidend zur Demokratiefähigkeit der Bundesrepublik bei.

Carola Stern starb im Januar 2006 kurz nach ihrem 80. Geburtstag. Sie war eine der bedeutendsten politischen Publizistinnen der Bundesrepublik, hat von 1960 bis 1970 das politische Lektorat beim Verlag Kiepenheuer & Witsch geleitet und danach als Redakteurin und Kommentatorin beim WDR gearbeitet. Sie hat eine Reihe sehr erfolgreicher Biographien geschrieben, u.a. über Dorothea Schlegel, Rahel Varnhagen, Fritzi Massary, ihre Autobiographien In den Netzen der Erinnerung und Doppelleben und über Johanna Schopenhauer. Darüber hinaus erschien: Auf den Wassern des Lebens, Gustaf Gründgens und Marianne Hoppe.

Carola Stern starb im Januar 2006 kurz nach ihrem 80. Geburtstag. Sie war eine der bedeutendsten politischen Publizistinnen der Bundesrepublik, hat von 1960 bis 1970 das politische Lektorat beim Verlag Kiepenheuer & Witsch geleitet und danach als Redakteurin und Kommentatorin beim WDR gearbeitet. Sie hat eine Reihe sehr erfolgreicher Biographien geschrieben, u.a. über Dorothea Schlegel, Rahel Varnhagen, Fritzi Massary, ihre Autobiographien In den Netzen der Erinnerung und Doppelleben und über Johanna Schopenhauer. Darüber hinaus erschien: Auf den Wassern des Lebens, Gustaf Gründgens und Marianne Hoppe.

Eka, die Jungmädelführerin


Wir hörten es in den Nachrichten um 13 Uhr. Ich rannte sofort los, um es Onkel Hans zu sagen. Auch Tante Meta, Bäcker Spintig und Frau Mauksch erfuhren es von mir: »Onkel Hans sin Führer is nu dran.« Damals war ich sieben.

Die neue Zeit begann mit einem Fackelzug zum Bismarckturm. Dann hißten Onkel Hans und seine Freunde die Hakenkreuzfahne auf dem Gemeindeamt und sagten, daß wir jetzt die Sieger seien. Wenig später war von einer Mordliste die Rede, angeblich bei Hausdurchsuchungen gefunden, mit der bewiesen werden könne, daß die Kommunisten alle alten Nazis aus dem Dorf ermorden wollten; Onkel Hans als sechsten. Wochenlang zitterte ich vor Angst, fürchtete jede Nacht ein kommunistisches Todeskommando vor der Tür. Kommunisten, davon war ich überzeugt, schreckten nicht davor zurück, auch Kinder umzubringen. Ich verwechselte Verfolger und Verfolgte.

Auch Sieger und Verlierer klar zu scheiden, fiel mir schwer. Während wir A und O auf unsere Tafeln malten, flüsterte Lehrer Christian Fräulein Illich zu: »Die Nazis sind doch grüne Jungs« – ein von mir aufgeschnapptes dunkles Wort, das deshalb großen Eindruck auf mich machte und mit dem ich Onkel Hans, dem Sieger, imponieren wollte. »Du bist ein grüner Junge.«

Noch ehe das Jahr zu Ende ging, waren alle sozialdemokratischen Lehrer vom Schuldienst suspendiert. Die aktivsten Kommunisten aus dem Dorf wie der Bierfahrer Krüger wurden abgeholt und kamen ins KZ.

Ich hatte nun nicht länger Angst, von kommunistischen Banden umgebracht zu werden, und durchlebte die normalen Tragödien siebenjähriger Mädchen. Unsere Lehrer waren pommersche Schulmeister mit Kneifer, Borstenhaar und blauen Leinenjacken. Schlegel drehte den Jungen mit Daumen und Zeigefinger das Backenfleisch so lange rum, bis sie laut schrien. Andere schickten uns – »Kopf zur Wand!« – in die Klassenzimmerecken. Friedrich hob bedächtig unsere Röckchen und schlug dann kräftig mit dem Weidenstöckchen auf die rosa Makohöschen.

Der Sitzenbleiber Tüter-Johann zerschlug mir meinen Lebensplan. Ich hatte mich mit fünf entschlossen, Tänzerin zu werden, und mit sieben, dies öffentlich bekannt zu machen, zuerst mal in der Klasse. »Mensch, dat jeiht ja jor nich!« – »Mensch, warum denn nich?« – »Na, Mensch, wegen dine krummen Been!« Der richtige Schock kam dann zu Hause, vor dem Spiegel. Ich möchte noch heute schluchzen.

»Rote Haare, Sommersprossen sind auch deutsche Volksgenossen!« neckten mich die Jungen. Ich beschloß deshalb, wenigstens die Sommersprossen loszuwerden. Im Reklameteil der Koralle sah man das geteilte Antlitz einer ondulierten Dame, links mit Sommersprossen, rechts ganz ohne. Das hatte die Creme »Schwanenweiß« bewirkt. Doch weigerte sich meine Mutter, dafür drei Mark herauszurücken. Auf den Rat von Mutter Dicksch entschloß ich mich, den Vollmond anzubeten, und ging um Mitternacht rückwärts aus dem Haus zum Strand, kniete nieder und murmelte den Zauberspruch. Doch ähnelte ich weiter der linken Hälfte der Koralle-Frau. »Laß man, min Kind«, tröstete Zirp Meißner, »dat is Möwenschiet.«

An den Rockzipfeln von Onkel Hans litt ich sehr darunter, wegen Schwächlichkeit und Krankheit nicht »zum Dienst« zu dürfen. Je länger ich ausgeschlossen blieb, um so mehr verklärte sich »der Dienst«. Glücklich ging ich zu meinem ersten Heimabend bei den Ahlbecker Jungmädeln. Wir saßen auf langen Bänken um einen großen Tisch und lernten das Lied vom Kleinen Trompeter, einem lustigen Hitlerjungen, von Rotfront hinterrücks erschossen und von denen, die ihn am liebsten hatten, still ins Grab gesenkt. Jedesmal beim Kehrreim übermannte mich die Rührung: »Leb wohl, du kleiner Trompeter, wir hatten dich alle so lieb ...« Kein Jungmädel ahnte, daß der Kleine Trompeter, eigentlich zum Sangesgut der KPD gehörend, ein Genosse war, Rotgardistenblut in seinen Adern hatte und ursprünglich von den Nazis hinterrücks erschossen worden war.

Schnell kam ich dahinter, daß ich dem Idealbild unseres Führers von deutschen Frauen und Mädchen nicht gerecht werden konnte. Dazu fehlte mir das Saubere, Schmucke, das Adrette. Dazu waren zu oft Essensreste auf meinem Uniformrock, dazu war zuviel Dreck unter meinen Nägeln. Auf Fahrt gehen – ja, aber Decken falten, Betten bauen, basteln, Kanon singen, häkeln, stricken, das war nicht mein Fall. Auch war ich zu sehr auf einen Solo-Ausdruckstanz mit zum Himmel hochgereckten Armen versessen, um an Volkstänzen wie »Im Grunewald, im Grunewald ist Holzauktion« sonderlich Gefallen zu finden. Die Jungvolkjungen forderten meist auch andere Mädchen auf. Der Schlagball verwandelte sich in meiner linken Hand in eine schwere Kugel, die ich, das Wurfsystem bis heute nicht begreifend, zwölf Meter in die Gegend schmiß.

180 Punkte für die Silbernadel bei den Sportwettkämpfen habe ich nie erreicht. Ich war ein furchtsames, unordentliches, unsportliches, altmodisch angezogenes Mädchen, doch unübertroffen in der Kunst, Handicaps durch Talente wettzumachen. König Drosselbart als Stegreifspiel zu inszenieren, patriotische Gedichte aufzusagen, Heldensagen der Germanen zu erzählen, zur Erheiterung auch auf sächsisch – darin war ich eine Nummer. Vor allem aber übertraf ich andere Kinder durch meine bescheuerte Gläubigkeit, durch meine Seligkeit, anerkannt zu werden, dazuzugehören, mit dabeizusein.

1936, im Olympiajahr, waren fast alle, die ich kannte, für den Führer. Meine Mutter war dafür. Weil Schwager Hans und andere Arbeitslose nun »endlich von der Straße« kamen, überwand sie anfängliche Bedenken gegen »den Proletarier« Hitler, trat der Frauenschaft und mir zuliebe auch dem Reichskolonialbund bei. Opa Schwandt hatte nämlich als Matrose auf der Elisabeth sowie irgendeinem Kanonenboot auf Samoa und in Deutsch-Südwestafrika die schwarzweißrote Flagge hochgezogen und seiner Enkeltochter so zu ihrem neuen, zweiten Lebensziel verholfen: Farmerin in Deutsch-Südwestafrika. Klar, daß uns Hitler die Kolonien zurückholen würde.

Unser Pastor war dafür. Am 1. Mai schritt er im Ornat und mit Gebetbuch die breite Treppe der neu erbauten Thingstätte zum Gottesdienst herab. Als deutsche Truppen in Österreich einmarschierten, riefen die Glocken zum Dankgottesdienst in unsere Kirche. »Großer Gott, wir loben dich« sang die Ahlbecker Gemeinde.

Viele Ausländer waren dafür – so jedenfalls sah es für mich auf den Bildern von der Olympiade aus. Unsere Badegäste waren dafür oder behaupteten es zumindest. Sie bauten Burgen und steckten Hakenkreuzfähnchen in den Sand.

Die Geschäfte an der Seestraße florierten. Nur hinter den Fenstern des Konfektionsgeschäfts gegenüber der Molkerei hingen gelblich-graue Leinentücher. Herr Mührberg, der Besitzer, war mit seiner Familie nach Palästina ausgewandert. Rosemarie Mührberg, die Klassenkameradin, holte ich morgens auf dem Schulweg ab. Bis zu ihrem letzten Tag im Dorf? Nein. Und davor auch nicht mehr. Wenig später, am Morgen nach der Schreckensnacht, standen wir schaulustig vor der angezündeten Swinemünder Synagoge, zwischen den umgeworfenen Grabsteinen auf dem jüdischen Friedhof. Empfanden wir Mitleid, Scham, Entsetzen? Nichts von alledem.

1936 kam ich auf die Swinemünder Oberschule. Unsere Lehrer haben uns politisch weder angefeuert noch ernüchtert. Dafür hatten sie zuviel mit sich selbst zu tun. Unsere Klassenlehrerin, die Studienrätin Fischer (Religion, Geschichte, Deutsch), und ihre Freundin, Fräulein Hoffmann (Biologie, Physik, Chemie), Damen um die Fünfzig, mühten sich, gute Christinnen zu bleiben und ihre Existenz nicht zu gefährden. Später erzählte mir das neunzigjährige Fräulein Fischer, wie es ihr in der Nazizeit ergangen war.

Am schwersten fiel unserer Klassenlehrerin der Geschichtsunterricht, eines ihrer Hauptfächer schon im Kaiserreich und in der ersten Republik. Germanen zu verherrlichen, Juden zu diffamieren und die Deutschen als Herrenvolk zu feiern, fiel der gläubigen Christin schwer. Als die Direktorin ihr erklärte, daß sie ihren Bibelkreis für Mädchen aufgeben müsse, weinte Fräulein Fischer. Manchmal dachte sie daran, einfach aufzuhören, aber dann machte sie doch weiter. Fräulein Fischer hatte Angst.

Wir wußten damals nichts von dieser Angst. Meine Vorbehalte gegen sie, und zwar hauptsächlich während des Deutschunterrichts, hatten auch nichts mit ihrer mangelnden nationalsozialistischen Gesinnung zu tun (»Na gut, die Fischer ist religiös«), sondern mit ihrer Weigerung, mit mir gemeinsam von der Erde in den Dichterhimmel abzuheben. Ich deklamierte innig den Kerkermonolog des Gretchen, Annemarie Fischer verwies auf die Folgen von Liebesabenteuern ohne Gottes Segen. Ich hauchte Hölderlin »Dir ist, Liebes, nicht einer zuviel gefallen«, Fräulein Fischer kam mit Wilhelm Raabe: »Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Gassen«. Ich hielt das für den empörenden Versuch, unsere Gefühle niedermachen zu wollen. Außer Deutsch hat mich in der Schule kaum etwas interessiert.

Mittags radelte ich schnell nach Hause in mein eigentliches Leben. Meine Mutter war Frauenschaftsleiterin im Dorf geworden und ich mit meinen zwölf Jahren Führerin der Ahlbecker Jungmädel. Das hob mein Selbstbewußtsein. Nun fühlte ich, die Fahrschülerin vom Dorf, mich meinen Mitschülerinnen, Tennis spielenden Töchtern von Marineoffizieren, Rechtsanwälten und Ärzten aus der Garnisons- und Kreisstadt zumindest ebenbürtig, wenn nicht überlegen.

Traurig lächelnd erinnere ich mich, wie sich die verhinderte Tänzerin als Backfisch wieder Bretter suchte, um das Glück des Auftritts zu erleben, und sei es auch in einer Farce. Hundert Mädchen auf dem Sportplatz angetreten. »Achtung! Stillgestanden!«...

Erscheint lt. Verlag 6.4.2017
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Zweisprachige Ausgaben
Schlagworte DDR-Spezialistin • Doppelagentin • Erika Assmus • Flucht • Journalistin • Nationalsozialismus • Russland • SED • USA • Westberlin • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-462-31646-X / 346231646X
ISBN-13 978-3-462-31646-9 / 9783462316469
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