Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Der Gott in einer Nuß (eBook)

Fliegende Blätter von Kult und Gebet
eBook Download: EPUB
2017 | 1., Originalausgabe
237 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75093-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Gott in einer Nuß - Christian Lehnert
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
(CHF 11,70)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Für seine Annäherung an kultische Handlungen wählt Christian Lehnert, selbst Theologe, einen besonderen Weg: den des Dichters. In der für ihn typischen Gattungsmischung von Reflexion, Schau und Erzählung, bei der die verschiedensten sprachlichen Register von kristallklarer bis hin zu expressiver Prosa gezogen werden, nähert sich Lehnert den festgefügten Formen des kultischen Vollzugs: Kyrie, Gloria, Glaubensbekenntnis, Abendmahl ... Kritisch und polemisch fordert Lehnert dabei den Konservativismus und seine erstarrte Religionspraxis ebenso heraus wie die charismatischen, liberalen oder esoterischen »Bewegungen«.



<p>Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden, ist Dichter und Theologe. Er leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut an der Universit&auml;t Leipzig. Seit mehr als 25 Jahren erscheinen im Suhrkamp Verlag Gedichtb&uuml;cher und Prosab&auml;nde, f&uuml;r die er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, zuletzt mit dem Deutschen Preis f&uuml;r Nature Writing (2018).</p>

Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden, ist Dichter und Theologe. Zurzeit leitet er das Liturgiewissenschaftliche Institut an der Universität Leipzig. Seine bislang sieben Gedichtbücher und ein Essay über Paulus erschienen im Suhrkamp Verlag. 2012 erhielt Lehnert den Hölty-Preis für sein lyrisches Gesamtwerk, 2016 den Eichendorff -Literaturpreis.

II

Gloria Patri, et Filio, et Spiritui Sancto.
Sicut erat in principio, et nunc, et semper:
et in saecula saeculorum.

Sechzehntes Blatt

Wie es war. – Zeitloses erkennen wir nur im Rückblick, unter der Maske des Gewesenen. Die nächtlichen Unterbrechungen unseres zeitläufigen Bewußtseins etwa, den Schlaf, gibt es nicht im Präsens und genaugenommen auch nicht im Futur. Wer ihn sehnsüchtig erwartet, bleibt oft genug schlaflos. Ich mag an seinen dämmerigen Rändern eine befreiende Ruhe erleben und zu besonderen Eingebungen gelangen – aber der Schlaf selbst ist ein unerreichbarer Zustand. Es gibt ihn nicht in meinem Leben. Nur erinnert hat er ein Dasein: als Lücke, bergendes Verlöschen und verändernde Kraft. Gleiches gilt von den Träumen, jenen verborgenen Abenteuern der Seele außerhalb der Wirklichkeit, ja, von allen starken Momenten, in denen ich versinke ohne die Chance zur Reflexion …

Auch die christliche Liturgie bezieht sich auf solcherart zeitliche Lücken. Sie werden zwangsläufig benannt mit Zeitworten, welche sich jedoch der Einordnung in einen getakteten Verlauf entziehen und diesen vielmehr unterhöhlen – sei es in der konzentrierten Kraft des kairos, des stimmenden Augenblicks, oder jener Anderszeit, der zeitlosen Zeit, die ganz unvollkommen und unvorstellbar mit dem trockenen sprachlichen Vehikel »Ewigkeit« angedeutet wird. So geschieht es gleich zu Beginn vieler christlicher Sakralfeiern in dem Gesang: »Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und von Ewigkeit zu Ewigkeit.«

Der Gesang bildete ursprünglich den Abschluß des gesungenen Eingangspsalms, des Introitus. Seit den Auseinandersetzungen um die Gottheit Christi in der alten Kirche, ausgelöst durch die uns heute verschroben klingende Frage, ob Christus vor seiner menschlichen Geburt Gott gleich oder eben nur ein untergeordneter Halbgott gewesen sei, in den sogenannten arianischen Streitigkeiten11, hatte es sich durchgesetzt, Psalmen und Lieder mit diesen Worten abzuschließen. Man wollte die Formel einer mühsam auf Konzilien gefundenen Einigung über die göttliche Wesenseinheit und die doch gleichzeitige Verschiedenheit der drei Erscheinungsweisen Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist in die Gebetssprache tragen – davon wird noch die Rede sein. Seit dem sechsten Jahrhundert ist die Formel bezeugt, vermutlich war sie aber schon vorher weit verbreitet.

»Wie im Anfang …« Was bedeutet das nun? Wie jeder Mensch habe ich meinen Anfang nicht und weiß nicht, wo er liegt. Irgendwo weit zurück und vor meinem Bewußtsein. Denn soweit ich zurückdenken kann, bin ich schon da12. Früheste Erinnerungen, mehr farbig aufgeladene Gefühle als Bilder: flirrendes Laub oder Birkenstämme, durch die ich getragen werde, von niemandem, von einer identitätslosen Geborgenheit, die mich allseits umfängt und mich auf ihren Armen schweben läßt und die von mir nicht zu trennen ist, wie Wärme, eine Welle … Und es war, so sage ich heute, der Vater. Aber davor? Weder Dunkel, keine Leere … Nichts. Das Erinnern setzt mich ja voraus, und das gilt von allen Anfängen. Der belebende Zauber der Frühe gilt immer schon etwas Vorhandenem, sei es auch nur als winzigem Keim. Was immer begonnen werden kann, ist schon da. Der Anfang selbst aber ist unverfügbar, er entzieht sich – und ich vergewissere mich später staunend, wie er mir etwas in die Sinne legte, was es vorher nicht gab.

»Jetzt und alle Zeit …« Alle Zeit? Immerdar? Was soll das heißen? Ich kann auch über diese Worte nicht verfügen. »Immer« ist eine Zeitbestimmung, die mir nicht zusteht, semantisch leer bleibt, reine Behauptung. »Alle Zeit« – was stellt das Wortpaar dar? Nichts, was ich sagen könnte, ohne in die Hybris oder eben die Lächerlichkeit der Spekulation zu gleiten. Zeit ist nicht als »Allzeit« zu erkennen, nur als Splitter, als Tag und Stunde, als Jahrzehnt, als Lebenszeit … Bruchstücke, nie ein Ganzes. Denn um das zu erkennen, müßte ich mich, zumindest in der Vorstellung, außerhalb der Zeit setzen. Aber das ist keine sinnvolle Position, denn dann wäre ich nicht. Das Wort »Ich« ist immer auch ein Zeitwort, und das Bewußtsein fällt, wie ein hochgeworfener Ball, immer wieder in den Tag zurück.

»Jetzt«? Schon Augustinus beschrieb in seinen Meditationen über die Zeit die seltsam flüchtige Bewegungsform dieses Wörtchens: »Wenn also die Gegenwart nur dadurch zu Zeit wird, daß sie in Vergangenheit übergeht, wie können wir dann sagen, daß sie ist, da doch ihr Seinsgrund eben der ist, daß sie nicht sein wird? Rechtens also nennen wir sie Zeit nur deshalb, weil sie dem Nichtsein zuflieht.«13 In der liturgischen Formel heißt es: »wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit«. Der unfaßliche Augenblick »jetzt« erscheint als Schattenwurf aus der tiefsten Vergangenheit wie auch aus einer unerklärlichen Summe von Zukunft. Und darin ein »Gott«, der »jetzt« dem »Nichtsein zuflieht«? Singen wir also einem flüchtigen Gebilde der Imagination? Ein Gott »jetzt« ist wohl immer schon verschwunden. Er flimmert nach, er besteht nur noch in uns, als Erinnerung oder Erwartung. Das ist sein natürlicher liturgischer Ort.

Was also gibt der Formel Stabilität? Sie führt drei Zeitbestimmungen an, die dem Menschen, jenem schnellebigen Geschöpf im Halbdunkel seiner selbst, nicht zur Verfügung stehen – drei Leerstellen. Sie negiert meine Zeitvorstellung und die Art meines zeitlichen Bewendens und damit mein ganzes Unterfangen des Verstehens. Die Formel weist auf Dinge jenseits des denkenden Menschen. Der prallt ab, verfängt sich zwischen »Ewigkeit« und »Ewigkeit« wie ein verirrter Vogel zwischen Glasfronten. Die Zeit und ihre Begriffe, heißen sie nun »jetzt« oder »im Anfang« oder »immerdar«, sind unendlich getrennt von dem Gott, der sie – folgt man dem Schöpfungsbericht der Bibel – hervorbrachte aus dem Nichts: »Da schied Gott das Licht von der Finsternis / und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.« (Genesis 1,4-5)

Dieser Anfang ist nicht ableitbar aus irgendetwas, was vorher da gewesen wäre, aus keiner Struktur und keiner Voraussetzung, nicht einmal der eines »Gottes vor seiner Schöpfung«, ohne Äußerung seiner selbst also, in einem abstrakten Gottesbegriff. Auch »Gott« ist ja erst »danach« er selbst (wenn diese Identitätsbehauptung eine sinnvolle Aussage ist), also »nachdem« oder »indem« er sich als Schöpfer erwies. Ein »Vorher«, sei’s doch der Grund allen Daseins, sei’s der Urgrund der Gottheit, ist nicht denkbar. »Vor der Zeit« ist ein unsinniger Ausdruck, da »vor« zeitlich gedacht ist. »Im Anfang« wird die Vorstellbarkeit von »vorher« und »danach« erst eingesetzt – als sprachliche Möglichkeit, der dieser Schöpfungsbericht aufsitzt und die er zugleich zu begründen beansprucht, und die Sprache strauchelt: Wir geraten erneut in einen Zirkel, ein Kreisen, Gedanken wie Krähenschwärme am Himmel.

»Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und von Ewigkeit zu Ewigkeit.« Der Gesang ist ein Oxymoron, Gestotter in dunkler Maskierung und in gedanklicher Unmöglichkeit. Christen unternehmen es hier in ihrer Liturgie, Zeitloses zu besingen, wo doch gerade der Gesang ganz ursprünglich die Zeit voraussetzt, hat doch jeder Ton einer Melodie einen deutlichen Bezug zu dem, was war, und zu dem, was kommt, und mißt Dauer durch seine eigene Existenz, gespannt zwischen Anfang und Ende. So singe ich also – mit dieser Formel, im Verstummen, mein zeitlich Wesen, ein wehend Laub, hinaus … Wie das? Hinaus in den Widerspruch, hinaus in den Gott.

Siebzehntes Blatt

Inmitten der Alten. – Die Tage als Pfarrer im Dorf waren angefüllt von alternden Dingen und betagten Menschen. Ich erinnere … schwerfällige Bewegungsformen, verlangsamten Gang. Morsche Balken im Dachgestühl der Kirche, die seit vierhundert Jahren aufeinanderrieben wie mürb gewordene Bandscheiben. Vorhänge vor den Durchgängen am Altar, die das Sonnenlicht zweier Jahrhunderte dünn und spröde gemacht hatte wie Packpapier. Eine Gruft, in der die Gebeine einer Dynastie von Fürsten plötzlich zu zerfallen begannen, weil in der Kapelle darüber eine Heizung eingebaut wurde. Eine Sonnenbrille lag dort unten neben dem Skelett eines Kindes mit seltsam gebogenen Beinen, das vor fünfhundert Jahren gestorben war. (Seinen Sarg hatten russische Soldaten 1945 aufgebrochen auf der Suche nach Wertsachen, und niemand hatte die Knochen wieder in ihre anatomische Ordnung und in den Schutz der Eichenbretter geräumt. Die alten Kleider mit Kragen und Spitzen hätten doch genügend Orientierung geboten. Inzwischen aber wachten penible Denkmalschützer und Restauratoren über die Unveränderlichkeit der Unordnung wie strenge Pfleger von Demenzpatienten, und es war nicht mehr möglich, etwas zu richten nach der Natur dieser Gebeine; und ich meinte, sie bräuchten doch ihre ursprüngliche Ruhe …) Ja, und weiteres, eben noch vergessen, kehrt zurück, wenn ich beginne, mich zu entsinnen: Staubige Bücher auf dem Dachboden der Kirche, Rechtsverordnungen aus dem neunzehnten Jahrhundert und Predigtbände. Tags die Gespräche – stockend. Gedehnt von vielen Unterbrechungen, die mir Zeit boten, um die Zeichnung von Falten im Gesicht eines Gegenübers zu verfolgen bis in die...

Erscheint lt. Verlag 6.2.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abendmahl • Christentum • Deutscher Preis für Nature Writing 2018 • Dichter • Dichtung • Eichendorff-Literaturpreis 2016 • Esoterik • Evangelisch • Gebet • Gedichte • Geschenkbuch • Glaube • Glaubenssätze • Gloria • Gott • Gottesdienst • Hölty-Preis für Lyrik 2012 • Katholisch • Konfession • Kult • Kyrie • Liturgie • Lyrik • Martin Luther • Messe • Mystik • Orthodoxie • Paulus • Pfarrer • Poesie • Religion • Religionsgeschichte • Religionskritik • Religionsphilosophie • Religionswissenschaft • Religiös • Spiritualität • Spirituell • ST 5018 • ST5018 • suhrkamp taschenbuch 5018 • Theologe • Theologie
ISBN-10 3-518-75093-3 / 3518750933
ISBN-13 978-3-518-75093-3 / 9783518750933
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,6 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 20,50