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Der Osten (eBook)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
400 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74518-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Osten -  Andrzej Stasiuk
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Andrzej Stasiuks großes Buch über »den Osten«: eine Summe seines Reisens und Schreibens - niedergelegt in einem epischen Strom, hinreißend erzählten Episoden und Epiphanien. Er reist von Polen über Russland bis nach China und blickt auf sein Leben, das Gewirr aus Wegen und Routen, in dem ein Kindertraum sich mit dem Glücksgefühl kreuzt, das er in der Wüste Gobi empfindet.
Was ist das, der Osten, dieses »Reich der Wunder«, das Andrzej Stasiuk immer wieder magisch anzieht? Dieses Kontinuum, dessen Erschütterungen von Kamtschatka bis an die Elbe zu spüren sind. Ostpolen, die Heimat, aus der seine Eltern vertrieben wurden? Der Osten namens Sowjetkommunismus, dessen Präsenz die Gesellschaft, in der er aufwuchs, kontaminiert hatte? Osten - so könnte eine Quintessenz des Buches lauten - ist keine Himmelsrichtung, sondern die Verheißung einer Dimension jenseits der vom Grauen der Vergangenheit unterminierten europäischen Landschaften.



<p>Andrzej Stasiuk, der in Polen als wichtigster jüngerer Gegenwartsautor gilt, wurde 1960 in Warschau geboren, debütierte 1992 mit dem Erzählband <i>Mury Hebronu (Die Mauer von Hebron)</i>, in dem er über seine Gewalterfahrung im Gefängnis schreibt. Stasiuk wurde 1980 zur Armee eingezogen, desertierte nach neun Monaten und verbüßte seine Strafe in Militär- und Zivilgefängnissen. 1986 zog er nach Czarne, ein Bergdorf in den Beskiden.</p> <p>1994 erschienen <i>Wiersze milosne i nie (Nicht nur Liebesgedichte)</i>, 1995 <i>Opowiesci Galicyjskie (Galizische Erzählungen)</i> und <i>Bialy Kruk (Der weiße Rabe;</i> 1998 bei Rowohlt Berlin), 1996 der Erzählband <i>Przez rzeke (Über den Fluss</i>; diesem Band ist <i>Die Reise</i> entnommen) und 1997 <i>Dukla</i>.</p> <p>2002 erhält er den von den Partnerstädten Thorn (Polen) und Göttingen gemeinsam gestifteten Samuel-Bogumil-Linde-Literaturpreis. Den literarischen Jahrespreis Nike<i> </i>erhielt Andrzej Stasiuk 2005 für sein Buch <i>Unterwegs nach Babadag. </i></p> <p>Sein vielfach ausgezeichnetes Werk erscheint in 30 Ländern. 2016 wurde er mit dem Staatspreis für europäische Literatur 2016 ausgezeichnet.</p>

Andrzej Stasiuk, der in Polen als wichtigster jüngerer Gegenwartsautor gilt, wurde 1960 in Warschau geboren, debütierte 1992 mit dem Erzählband Mury Hebronu (Die Mauer von Hebron), in dem er über seine Gewalterfahrung im Gefängnis schreibt. Stasiuk wurde 1980 zur Armee eingezogen, desertierte nach neun Monaten und verbüßte seine Strafe in Militär- und Zivilgefängnissen. 1986 zog er nach Czarne, ein Bergdorf in den Beskiden. 1994 erschienen Wiersze milosne i nie (Nicht nur Liebesgedichte), 1995 Opowiesci Galicyjskie (Galizische Erzählungen) und Bialy Kruk (Der weiße Rabe; 1998 bei Rowohlt Berlin), 1996 der Erzählband Przez rzeke (Über den Fluss; diesem Band ist Die Reise entnommen) und 1997 Dukla. 2002 erhält er den von den Partnerstädten Thorn (Polen) und Göttingen gemeinsam gestifteten Samuel-Bogumil-Linde-Literaturpreis. Den literarischen Jahrespreis Nike erhielt Andrzej Stasiuk 2005 für sein Buch Unterwegs nach Babadag. Sein vielfach ausgezeichnetes Werk erscheint in 30 Ländern. Renate Schmidgall, geboren am 26. März 1955 in Heilbronn, ist deutsche Übersetzerin polnischer Literatur und lebt in Darmstadt. Sie studierte Slawistik und Germanistik in Heidelberg und war anschließend als Bibliothekarin am Deutschen Polen-Institut beschäftigt. Von 1990 bis 1996 arbeitete sie dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Seither ist sie als freie Übersetzerin tätig.

Letzten Sommer kaufte Jerry die Einrichtung eines LPG-Ladens. Alles: Ladentische, Regale, irgendwelche Vitrinen und eine altertümliche Waage mit Schalen und einem Zeiger, der hinter Glas wandert. Wir packten die kommunistischen Antiquitäten auf die Tenne eines hundertjährigen Lemkenhauses. Die Ladentische und die Regale musste man ein Stück abschneiden. So groß waren sie. Fünfzig Jahre lang hatten sie an derselben Stelle gestanden, und niemand hatte sie angerührt. 1983, am ruthenischen Osterfest, habe ich sie zum ersten Mal gesehen, da stellte ich mich zum ersten Mal in die Schlange, und später stand ich immer wieder da, bis zum Schluss, die ganze Zeit in diesem vertrauten Geruch. Was war das? Süßigkeiten, Zimt, Marmelade, Vanillezucker, Räucherspeck, die Ausdünstung leerer Bierflaschen, Zigarettenrauch, die Körper der wartenden Menschen? Alles zusammen. Die Ware traf dienstags und freitags ein. Man musste sehr früh da sein und anstehen, um etwas zu bekommen. Die Ökonomie des Mangels. Der Laden gehörte zur LPG und bediente eigentlich nur ihre Mitarbeiter. Der Verkäufer war der Chef des Landwirtschaftsbetriebs. Die Mehrzahl der LPG-Arbeiter brauchte in der Regel kein Bargeld. Der Chef hatte ein dickes Heft, in dem er die Einkäufe namentlich auflistete, am Zahltag zog er die Summe dann vom Lohn ab. Manche Arbeiter bekamen wahrscheinlich nie Geld zu Gesicht. Sie arbeiteten und bekamen dafür einfach Essen, Seife, Bier. Die Schlange der fügsamen Frauen hatte etwas Feudales. Schweigend standen sie da oder redeten leise. Zwei, drei, vier Stunden. Zeit gab es damals mehr als genug. Die Waren brachte ein beigefarbener Żuk. Man sah ihn schon aus zwei Kilometern Entfernung. Neben der alten orthodoxen Kirche tauchte er auf und zog eine große Staubwolke hinter sich her, danach fuhr er bergab, verschwand für zwei Minuten und erschien dann wieder auf der letzten, einen halben Kilometer langen Geraden.

Ich stand am Ende der Frauenschlange und fühlte mich in dieser kollektivistischen und zugleich patriarchalischen Welt wie ein Dahergelaufener. Der Chef stand in dunkelblauem Kittel und weißem Helm hinter dem Ladentisch. Er wies mit dem Finger mal auf die eine, dann auf die andere Kundin und sprach sie an. Die Reihenfolge in der Schlange hatte keinerlei Bedeutung. Diejenigen, auf die er zeigte, bekamen etwas. Es ist mir nie gelungen, das Prinzip dieser Auswahl zu enträtseln. Belohnte der Chef vielleicht die besten Arbeiterinnen? Waren es vielleicht diejenigen, die es am weitesten nach Hause hatten? Oder zeigte er einfach seine absolute Macht, die er in Wirklichkeit über dieses Volk ausübte? Die Leute waren sein Eigentum. Sie konnten nicht fortgehen. Die Tycowa hatte neun Kinder. Um Brot zu holen, kam sie mit einem Sack, in einem Drillichanzug, direkt von den Schafen oder Pferden. Gebückt trug sie den Sack über die Schwelle, als schleppte sie einen Sack Kartoffeln. Die Gesindehäuser standen auf der Anhöhe, sie musste mit ihrem Bündel bergauf. Es hieß, sie bekomme mehr Kindergeld als Lohn. Die Kiesstraße lief mitten durch die Siedlung, und außer dem Żuk fuhren dort nur hin und wieder mit Holz beladene Lastwagen, der Förster mit seinem UAZ und die Patrouillen der Grenzschützer. Ein Auto hatte niemand. Der Bus hielt sechs Kilometer entfernt. Mit neun Kindern konnte man wahrhaftig nicht fortgehen. Außerdem wartete auch niemand. Ich stand am Ende der Frauenschlange und fühlte mich wie ein Dahergelaufener.

Aber irgendwoher kannte ich das alles. Die Kopftücher, die gedämpften Stimmen, das Warten. Die Zeit, die man unter Fremden verbringen musste. Aus den Jahren 1973, 1974, aus einem anderen Laden. Dieser andere war gemauert und stand mitten in einem normalen Dorf. Über einige Stufen betrat man einen hellen Innenraum mit einer großen Fensterfront. Auch dort musste man früher kommen und warten. Zeit. Eine unglaubliche Menge geschenkte Zeit. Niemandes Zeit. Angefüllt mit Gerüchen, Formen, Lauten. Zum Beispiel das Klirren der leeren Flaschen in dem Drahtkorb für fünfundzwanzig Stück. Oder der Moment, wo der Lieferwagen schon angehalten hat, in der Luft aber noch Staub und Benzingeruch hängen; der Typ in dem schmutzigen weißen Kittel öffnet die hintere Tür, und der Duft von frischem Brot strömt heraus. 1972, 1973 – alle Lieferwagen hatten damals Benzinmotoren, und der Geruch von Treibstoff mit niedriger Oktanzahl, der Geruch von Freiheit, Geheimnis und Verlangen, mischte sich mit dem Geruch von Süßigkeiten, Zimt, Orangeade und Zigaretten. Dort stand ich damals auch zwischen alten Frauen. Sie saßen auf dem Sims dieser langen Fensterfront. Eingemummt hockten sie da wie Vögel. Zwitschernd und gackernd. Die Verkäuferin kam hinter der Theke hervor und setzte sich zu ihnen. Ich horchte und verstand nichts. Sie redeten in vertrauten Satzfetzen. Von alten, durch und durch bekannten Ereignissen, die sich seit Urzeiten wiederholten. Leben, Tod, Menschen, Wetter, Arbeit. Sie redeten in einem singenden Tonfall. Statt zu verstehen, reimte ich mir etwas zusammen. Allein die Laute reichten aus. Die Helden kannte ich nicht. Ich war ein schüchterner Junge aus der Stadt und wollte unsichtbar sein. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, wo der Lieferwagen vorfahren würde. Ich kümmerte mich nie um die Reihenfolge, und so stand ich, obwohl noch viele nach mir kamen, immer am Ende der Schlange. Es sei denn, die Frauen erkannten, »von wem« ich war, erbarmten sich und ließen mich irgendwo in die Mitte oder schubsten mich vorwärts. Ich wollte nur Brot. Nur nach Brot schickte man mich, denn ich war zwölf und ein begriffsstutziger Junge aus der Stadt.

Der Laden befand sich in der Nähe einer Kreuzung. Links fuhr man in den Landkreis, rechts zur Kirche, und gleich dahinter, auf dem hohen Ufer des Flusses, brach die Straße ab. Zwischen dem Laden und der Kirche lag das Dorfzentrum. Direkt an der Kreuzung stand eine Remise. Aus rohen, altersgeschwärzten Brettern. Darin fanden Vergnügungen statt. Dann leuchtete die Remise wie ein Lampion. Durch die Ritzen drang Licht. Den Feuerwehrwagen fuhr man heraus, um Platz zum Tanzen zu machen. Ja. In diesen Stunden verließ mich meine Schüchternheit, denn man konnte sich im Dunkeln verstecken. Am Rande des Lichtkreises lauern und schauen. Das grüne Zwielicht des Sommers und Schreie im Dunkeln. Sie schlugen sich bis aufs Blut, bis zum Umfallen. All das erfuhr ich am nächsten Tag aus den Gesprächen der Frauen. Tante und Großmutter wussten, wer wen verprügelt hatte und welche Verletzungen es gab. Liebe und Gewalt. In der Dunkelheit war es heiß wie in einem Pferdestall. Und das alles keine hundert Schritte von der Kirche entfernt. Ich konnte den Blick nicht losreißen von denen, die sich in der Finsternis verloren.

Und jetzt packten wir die Tische und Regale des Ladens auf die Tenne dieser hundertjährigen Lemkenkate, die durch ein Wunder überlebt hatte in einem Dorf, aus dem alle anderen Häuser verschwunden waren. Vergangen, verfallen, in Rauch aufgelöst, vierundsechzig Bauernhäuser. Fünfzehn Meter lang, gedrungen, mit steilen und hohen Dächern, unter denen man für den ganzen Winter das Heu für Rinder und Schafe unterbringen konnte. Wie umgedrehte Schiffsrümpfe, an denen sich die Bordwand entlang helle Linien von Lehmmörtel ziehen, der die mit schwarzem Petroleum getränkten Tannenbalken verbindet. Von vierundsechzig hatte eines überlebt, und jetzt stopften wir diese kommunistischen Überbleibsel hinein. Obwohl es gerecht gewesen wäre, sie zu verbrennen und die Asche in alle vier Winde über die Niedrigen Beskiden zu verstreuen. Das hätten wir tun sollen. Genauso wie es mit den vierundsechzig Häusern und all den Resten des alten Rutheniens vom Bug und San bis nach Szlachtowa und zum Fluss Grajcarek gemacht worden war. Aber nein. Wir luden sie aus. Holz und Sperrholz waren fettig von der Berührung der Hände und der Dinge, vollgesogen mit Gerüchen und schwer. Das Leben war in sie eingedrungen und erstarrt. Die Schichten des Lebens: Die Zeit der Lemken, der Kommunismus und jetzt wir, schwitzend unter der Last.

Alle Dorfläden jener Zeit rochen so ähnlich. 1968, 1969, in einem anderen Dorf, ging man ebenfalls über eine Treppe in den Laden. Es war Abend, zusammen mit dem Geruch strömte aus dem schmalen Innenraum Licht. Golden, mit dem Duft von Vanille und Orangeade gemischt. An mehr kann ich mich nicht erinnern: über die steile Treppe nach links, ein enger Raum und Schluss. Nur der Geruch und das Licht. Vor dem Laden ein Rasen und Reste von Backsteinpfosten, Überbleibsel der Gebäude des ehemaligen Gutshofs. Diese Wörter schwebten in der Luft, in Gesprächen: Gutshof, Herrenhof, vom Hof, auf dem Hof … Etwas Fremdes lag darin und etwas Bedrohliches. Schon allein das Wort »Hof« dröhnte, es klang tief und dumpf. Fast wie »Tod«. Das Dorf lebte in der Erinnerung an die Leibeigenschaft und war sich dessen gar nicht bewusst. Der »Hof« war wie ein Wachturm, ein Fort an der Grenze, zur Abschreckung errichtet. Die Leute gingen immer noch »auf den Hof« arbeiten, obwohl die Volksmacht ihnen 1945 oder 1946 diese kargen Flecken als Eigentum überlassen hatte. Durch das Dorf führte eine sandige Straße. Ich kann mich nicht erinnern, dort jemals ein Auto gesehen zu haben. Die Hühner hinterließen angewärmte Kuhlen. Hier und da konnte man einen spantrockenen Kuhfladen finden. Aber Autos fuhren nicht. 1968 gab es dort einfach keine. Der Verkehr gelangte bis zum Laden und kehrte dann um. Es waren Lastwagen der Marke Star oder Lublin mit Planen aus Zeltstoff. Sie brachten im Morgengrauen die Arbeiter zu den Warschauer Fabriken und nachmittags wieder nach Hause. In der Wileńska fuhren sie ab. Man saß auf Brettern, die quer über die Pritsche gelegt waren. Über eine Leiter aus Stahlstangen stieg man ein. Ich...

Erscheint lt. Verlag 8.2.2016
Übersetzer Renate Schmidgall
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Wschod
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte China • epischer Strom • Johann-Heinrich-Voß-Preis 2017 • Karl-Dedecius-Preis der Robert-Bosch-Stiftung 2009 • Kulturgeschichte • Osteuropa • Ostpolen • Polen • Reisen • Russland • Schreiben • Sowjetkommunismus • ST 4761 • ST4761 • Staatspreis für europäische Literatur 2016 • suhrkamp taschenbuch 4761 • Wschod deutsch
ISBN-10 3-518-74518-2 / 3518745182
ISBN-13 978-3-518-74518-2 / 9783518745182
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