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Von Anfang und Ende (eBook)

Über die Lesbarkeit der Welt. Die Frankfurter Poetikvorlesungen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
144 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30883-9 (ISBN)
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»Der legendäre ?Adorno-Hörsaal? VI der Frankfurter Goethe-Universität war überfüllt. (...) Man saß auf Bänken und Pulten, alle Seitengänge und selbst die Zugänge waren verstopft. Zu hören waren in geballter Verdichtung fünf konzise poetologische Vorlesungen, die es in sich hatten. (...) Uwe Timm spannte einen Bogen vom biblischen Buch Genesis und der Offenbarung des Johannes über Goethe und Camus bis hin zu Adalbert Stifter, erörterte die Elemente poetischen Schreibens und begab sich auf einige atemberaubende Expeditionen ins eigene Romanwerk.« Volker Breidecker, Süddeutsche Zeitung

Uwe Timm, geboren 1940 in Hamburg, lebt in München und Berlin. Sein Werk erscheint seit 1984 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, u.?a.: »Heißer Sommer« (1974), »Morenga« (1978), »Der Schlangenbaum« (1986), »Kopfjäger« (1991), »Die Entdeckung der Currywurst« (1993), »Rot« (2001), »Am Beispiel meines Bruders« (2003), »Der Freund und der Fremde« (2005), »Halbschatten« (2008), »Vogelweide« (2013), »Ikarien« (2017), »Der Verrückte in den Dünen« (2020).

Uwe Timm, geboren 1940 in Hamburg, lebt in München und Berlin. Sein Werk erscheint seit 1984 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, u. a.: »Heißer Sommer« (1974), »Morenga« (1978), »Der Schlangenbaum« (1986), »Kopfjäger« (1991), »Die Entdeckung der Currywurst« (1993), »Rot« (2001), »Am Beispiel meines Bruders« (2003), »Der Freund und der Fremde« (2005), »Halbschatten« (2008), »Vogelweide« (2013), »Ikarien« (2017), »Der Verrückte in den Dünen« (2020).

2. Anstöße


Was ist der Anfang vom Anfang? Der Anfang ist gemacht. Es gibt den Anfang dann, wenn wir zur Tat schreiten. Insofern ist die Übersetzung, die Goethe seinen Faust für den Beginn des Johannesevangeliums, »Im Anfang war das Wort«, finden lässt, ganz richtig: »Im Anfang war die Tat«. Aber auch dem Anfang zur Tat ist immer schon etwas vorausgegangen. Der Alltag zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass immer das eine aus dem anderen folgt. Ein Kausalkontinuum, auch wenn man sagt, jetzt fange ich an, eine neue Arbeit, oder höre mit dem Rauchen auf, es ist immer die Fortsetzung der begonnenen oder liegen gelassenen Arbeit, das Nichtmehrrauchen des Rauchers. Ein neuer Anfang steht oft für den Entschluss zu einer Trennung. Aber dem sind viele infinitesimale Schritte vorangegangen, sodass nie zu sagen ist, dort genau ist der Anfang.

Allenfalls wird das hervorgehoben, was das Bewusstsein als Entschluss zum Anfang bestimmt. Die Geburt, das mag man als Anfang bezeichnen, aber auch der ist umstritten, wie aus der Diskussion um die Abtreibung bekannt ist. Laurence Sterne hat das in seinem »Tristram Shandy« auf eine wunderbar ironische Weise thematisiert. Der Anfang dieses Romans, der nie aufhört, Anfang zu sein, denn das Buch endet sechs Jahre vor seinem Beginn, dieser Anfang lautet: »Ich wollte, mein Vater oder auch meine Mutter, oder eigentlich beide – denn es wäre wirklich beider Pflicht und Schuldigkeit gewesen – hätten sich ordentlich zu Gemüte geführt, was sie tun wollten, als sie mich zeugten.«

In der Literatur hingegen, im Roman, gibt es, anders als in der Realität, den einen faktischen Anfang, den ersten festgeschriebenen Satz. Im Schreibprozess muss nicht tatsächlich der erste Satz der erste sein, sondern er kann von dem Buchstaben-Demiurgen nachgetragen werden, verbessert, wird womöglich erst ganz zum Schluss geschrieben. Aber als erster Satz steht er, für uns Leser, da, ist gleichermaßen Wort und Tat. Darum dieser zugegeben kühne Vergleich mit der Schöpfung. Es gibt diesen Anfang der literarischen Kosmogonien auch dann, wenn der Autor permutabel ein Wort wählt oder auch nur drei Pünktchen setzt, was andeutet, dass es um ein Kontinuum geht, wie in der ganz beiläufigen Situation, mit der die Novelle »Katz und Maus« von Günter Grass anfängt.

»… und einmal, als Mahlke schon schwimmen konnte, lagen wir neben dem Schlagballfeld im Gras.«

Oder der Anfang von Arno Schmidts »Brands Haide«, darin die erste Erzählung »Blakenhof oder die Überlebenden«, die so beginnt: »21. 3. 1946: auf britischem Klopapier.«

Ein Anfang, der beides umreißt: Zeit und Zeitumstände. Knapper ist das kaum zu formulieren, zugleich stimmt es auf diesen besonderen Ton ein, trockene Komik, Alltagssprache, die gebrochen, befragt wird, aus der heraus auch über Sprache und Bewusstsein nachgedacht wird, ohne dass sie zum theoretischen Sprechen mutiert.

Wobei gesagt werden muss, dass nicht aus dem Anfang die Idee entspringt, sondern die Idee aus dem eigentümlichen Gebräu vor dem Anfang sich herausbildet. Darum kann der Anfang umgeschrieben werden, nicht nur weil die Sprache funktional eingesetzt wird, sondern weil auch aus der Sprache selbst sich die Idee bildet. Denn das, was die Vorstellung war, dieses Energiegebräu, bildet sich erst langsam durch Reflexion zu einer Struktur. Der Anfang als ein tastendes Suchen, auch Versuchen. Durchaus vergleichbar dem, was Kleist in seinem Aufsatz »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« entwickelt hat. So muss sich beim Roman der Ton erst finden, der klingt, der richtig klingt, Einklang schafft, wie auch viele Kosmogonien von der Vorstellung einer Harmonie des Ganzen und seiner Teile geleitet sind, aus der sich Sinn zuspricht. Auch in der Genesis war ja ein neuer Anlauf nötig, der dem älteren Anfang vorangestellt wurde.

Auf meinem Schreibtisch liegt ein kleiner silberner Stab, über dessen Funktion Besucher rätseln. Denn schiebt man einen schmalen Ring nach vorn, fährt der Stachel eines Hystrix, eines Stachelschweins, heraus. Dieses zierliche Gerät spielt am Anfang von »Der Mann auf dem Hochrad« eine Rolle, obwohl es nicht für den Anfang des Schreibens stand. Es lag da, und ich dachte dabei auch an den Zauberstab des Prospero aus »Der Sturm«. Man darf mit den Motiven der Großen ja spielen, wobei das »Man« den Autor meint, der ich bin. Der kleine Stab ist kein Zauberstab, sondern ein Zahnstocher, und er steht am Anfang der Geschichte, die der Autor »Legende« genannt hat und die von allen seinen epischen Arbeiten die in der kürzesten Zeit geschriebene ist. Was war der »Urknall«, der zu dieser Legende führte? Der Autor arbeitete an einem ganz anderen Roman, einem Roman, der in Lateinamerika spielte und die Geschichte eines Bauingenieurs erzählte, der mit seinem Projekt, dem Bau einer Papierfabrik, gescheitert war. Dem liegt ein Erlebnis des Autors zugrunde, der auf einer Reise in Argentinien einen Ingenieur getroffen hatte, dem ein Neubau in einem sumpfigen Gelände versank. Das Baugelände war zwecks Bodenspekulation und durch Korruption mittels gefälschter Bodenproben vertauscht worden. Es war die Zeit der Militärdiktatur von General Videla. Oppositionelle, Gewerkschafter, aber auch nur der Opposition Verdächtigte verschwanden, sie wurden umgebracht.

Nicht allein die Empörung über diesen von der amerikanischen Exekutive geförderten, von der deutschen Regierung hingenommenen Terror war der Treibsatz für diesen Roman, der später unter dem Titel »Schlangenbaum« erscheinen sollte. Für die Empörung wäre ein Artikel in einer Zeitschrift der rechte Ort gewesen. Was den Autor, mich, damals umtrieb, war jedoch die weitergehende Frage, ob und wie das, was frischfröhlich Fortschritt genannt wurde und auch fester Bestandteil der Marx’schen Theorie war, überhaupt noch sinnvoll ist. Eine Krise auch in der von der Marx’schen Theorie geprägten Diskussion, wie die menschliche Geschichte, die ökonomischen, technisch-wissenschaftlichen Entwicklungen bewusst gestaltet werden können, und zwar anders als durch die chaotische, allein am Profit orientierte kapitalistische Produktionsweise. Noch existierten die sozialistischen Länder, deren Probleme jedoch, die wirtschaftlichen wie die gesellschaftlichen, waren unübersehbar. Der Anspruch, eine Gesellschaft zu schaffen, die ein Mehr an Freiheit und Gleichheit bieten sollte, war durch ideologische Gängelung, fehlende Rechtsstaatlichkeit, gewaltsame Unterdrückung und Bespitzelung pervertiert worden. Fehlende Pressefreiheit, keine freien Wahlen, Mangelwirtschaft ließen das Modell des realen Sozialismus als das erscheinen, was es war – hoffnungslos. Und dann flog auch noch einer der Atomreaktoren, die durch die volksdemokratische Kontrolle in höchstem Maße sicher sein sollten, in Tschernobyl in die Luft. Eine Verständniskrise des Autors, der sich damals ein Zitat aus Walter Benjamins »Über den Begriff der Geschichte« herausschrieb und auf den Schreibtisch legte: »Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«

Wie dieser deutsche Ingenieur mit seinem Neubau, so war auch der Autor mit seiner politischen Theorie gescheitert. Er saß fest, es war nicht gerade ein Schreibblock, aber der Fortgang der sich schon dem Ende nähernden Geschichte seines Romans stieß auf Hemmnisse, die sich nicht beseitigen lassen wollten. Der Autor, damals am Ammersee wohnend, lief durch Wald und Wiesen, saß am Schreibtisch, trank Kaffee und Tee, aber es wollte sich keine Lösung des Problems für den Fortgang der Romanhandlung einstellen. Und vor allem: Er dachte, woran er nicht denken durfte, er dachte über das Ende des Romans nach. Wir werden darauf noch in der letzten Vorlesung zu sprechen kommen. Zweifel an dem Romanprojekt kamen auf, Zweifel an der Komposition, und das alles in diesem ja schon recht fortgeschrittenen Stadium der Arbeit. Damals kam die Mutter des Autors zu Besuch, und bei einer abendlichen Unterhaltung wurde von ihr ein schon vor Jahrzehnten verstorbener Großonkel in Coburg erwähnt. Er habe, behauptete die Mutter, im letzten Jahrhundert in Coburg das Hochradfahren eingeführt. Ein Präparator und begeisterter Fahrradpionier. Auch sei er bei dem regierenden Herzog Fahrradlehrer gewesen.

Der Onkel, den der Autor als Junge noch erlebt, an den er aber jahrelang nicht mehr gedacht hatte, machte sich im Kopf, der mit einem Bauingenieur im südamerikanischen Regenwald beschäftigt war, regelrecht breit. Onkel Franz begann in dem Gedächtniskoffer zu rappeln, lenkte von dem Schicksal, von der Sprache des Ingenieurs ab, verdrängte ihn langsam.

1943 in Hamburg ausgebombt, wurde die Familie des Autors nach Coburg evakuiert, einer kleinen Stadt, bis 1918 Residenzstadt des Herzogtums Sachsen-Coburg-Gotha. Für das Kind war es ein...

Erscheint lt. Verlag 5.3.2015
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte 2009 • Adorno-Hörsaal • Frankfurt • Goethe-Universität • Literatur • Poetik-Vorlesungen • poetisch • Poetologie • Über die Lesbarkeit der Welt • Uwe Timm
ISBN-10 3-462-30883-1 / 3462308831
ISBN-13 978-3-462-30883-9 / 9783462308839
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