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Stiller (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2011 | 1. Auflage
448 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73530-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stiller -  Max Frisch
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Bei seiner Einreise in die Schweiz wird Mister White festgenommen, weil er für die Polizei mit dem verschwundenen Bildhauer Anatol Ludwig Stiller identisch ist. Frühere Freunde bestätigen den Verdacht. Er aber widersetzt sich dieser Festlegung, seine Aufzeichnungen in der Untersuchungshaft wehren sich gegen diese Behauptung mit der Feststellung: »Ich bin nicht Stiller!«.



Max Frisch, geboren am 15. Mai 1911 in Z&uuml;rich, arbeitete zun&auml;chst als Journalist, sp&auml;ter als Architekt, bis ihm mit seinem Roman <em>Stiller</em> (1954) der Durchbruch als Schriftsteller gelang. Es folgten die Romane <em>Homo faber</em> (1957) und <em>Mein Name sei Gantenbein</em> (1964) sowie Erz&auml;hlungen, Tageb&uuml;cher, Theaterst&uuml;cke, H&ouml;rspiele und Essays. Frisch starb am 4. April 1991 in Z&uuml;rich.

Max Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zürich geboren und starb am 4. April 1991 an den Folgen eines Krebsleidens in seiner Wohnung in Zürich. 1930 begann er sein Germanistik-Studium an der Universität Zürich, das er jedoch 1933 nach dem Tod seines Vaters (1932) aus finanziellen Gründen abbrechen musste. Er arbeitete als Korrespondent für die Neue Zürcher Zeitung. Seine erste Buchveröffentlichung Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt erschien 1934 in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart. 1950 erscheint Das Tagebuch 1946-1949 als erstes Werk Frischs im neugegründeten Suhrkamp Verlag. Zahlreiche weitere Publikationen folgten.

Erster Teil 8
Erstes Heft 10
Zweites Heft 87
Drittes Heft 153
Viertes Heft 203
Fünftes Heft 235
Sechstes Heft 255
Siebentes Heft 318
Zweiter Teil 386
Zeittafel 441

Erster Teil

Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis


Erstes Heft


»Sieh, darum ist es so schwer, sich selbst zu wählen, weil in dieser Wahl die absolute Isolation mit der tiefsten Kontinuität identisch ist, weil durch sie jede Möglichkeit, etwas anderes zu werden, vielmehr sich in etwas anderes umzudichten, unbedingt ausgeschlossen wird.«

 

»–: indem die Leidenschaft der Freiheit in ihm erwacht (und sie erwacht in der Wahl, wie sie sich in der Wahl selber voraussetzt), wählt er sich selbst und kämpft um diesen Besitz als um seine Seligkeit, und das ist seine Seligkeit.«

 

Kierkegaard »Entweder-Oder«

 

 

Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere. Denn ohne Whisky, ich hab’s ja erfahren, bin ich nicht ich selbst, sondern neige dazu, allen möglichen guten Einflüssen zu erliegen und eine Rolle zu spielen, die ihnen so passen möchte, aber nichts mit mir zu tun hat, und da es jetzt in meiner unsinnigen Lage (sie halten mich für einen verschollenen Bürger ihres Städtchens!) einzig und allein darum geht, mich nicht beschwatzen zu lassen und auf der Hut zu sein gegenüber allen ihren freundlichen Versuchen, mich in eine fremde Haut zu stecken, unbestechlich zu sein bis zur Grobheit, ich sage: da es jetzt einzig und allein darum geht, niemand anders zu sein als der Mensch, der ich in Wahrheit leider bin, so werde ich nicht aufhören, nach Whisky zu schreien, sooft sich jemand meiner Zelle nähert. Übrigens habe ich bereits vor Tagen melden lassen, es brauche nicht die allererste Marke zu sein, immerhin eine trinkbare, ansonst ich eben nüchtern bleibe, und dann können sie mich verhören, wie sie wollen, es wird nichts dabei herauskommen, zumindest nichts Wahres. Vergeblich! Heute bringen sie mir dieses Heft voll leerer Blätter: Ich soll mein Leben niederschreiben! wohl um zu beweisen, daß ich eines habe, ein anderes als das Leben ihres verschollenen Herrn Stiller.

»Sie schreiben einfach die Wahrheit«, sagt mein amtlicher Verteidiger, »nichts als die schlichte und pure Wahrheit. Tinte können Sie jederzeit nachfüllen lassen!«

 

Heute ist es eine Woche seit der Ohrfeige, die zu meiner Verhaftung geführt hat. Ich war (laut Protokoll) ziemlich betrunken, weswegen ich Mühe habe, den Hergang zu beschreiben, den äußeren.

»Kommen Sie mit!« sagte der Zöllner.

»Bitte«, sagte ich, »machen Sie jetzt keine Umstände, mein Zug fährt jeden Augenblick weiter –«

»Aber ohne Sie«, sagte der Zöllner.

Die Art und Weise, wie er mich vom Trittbrett riß, nahm mir vollends die Lust, seine Fragen zu beantworten. Er hatte den Paß in der Hand. Der andere Beamte, der die Pässe der Reisenden stempelte, war noch im Zug. Ich fragte:

»Wieso ist der Paß nicht in Ordnung?«

Keine Antwort.

»Ich tue nur meine Pflicht«, sagte er mehrmals, »das wissen Sie ganz genau.«

Ohne auf meine Frage, warum der Paß nicht in Ordnung sei, irgendwie zu antworten – dabei handelt es sich um einen amerikanischen Paß, womit ich um die halbe Welt gereist bin! – wiederholte er in seinem schweizerischen Tonfall:

»Kommen Sie mit!«

»Bitte«, sagte ich, »wenn Sie keine Ohrfeige wollen, mein Herr, fassen Sie mich nicht am Ärmel; ich vertrage das nicht.«

»Also vorwärts!«

Die Ohrfeige erfolgte, als der junge Zöllner, trotz meiner ebenso höflichen wie deutlichen Warnung, mit der Miene eines gesetzlich geschützten Hochmuts behauptete, man werde mir schon sagen, wer ich in Wirklichkeit sei. Seine dunkelblaue Mütze rollte in Spirale über den Bahnsteig, weiter als erwartet, und einen Atemzug lang war der junge Zöllner, jetzt ohne Mütze und somit viel menschlicher als zuvor, dermaßen verdutzt, auf eine wutlose Art einfach entgeistert, daß ich ohne weiteres hätte einsteigen können. Der Zug begann gerade zu rollen, aus den Fenstern hingen die Winkenden; sogar eine Wagentüre stand noch offen. Ich weiß nicht, warum ich nicht aufgesprungen bin. Ich hätte ihm den Paß aus der Hand nehmen können, glaube ich, denn der junge Mensch war derart entgeistert, wie gesagt, als wäre seine Seele ganz und gar in jener rollenden Mütze, und erst als sie zu rollen aufgehört hatte, die steife Mütze, kam ihm die begreifliche Wut. Ich bückte mich zwischen den Leuten, beflissen, seine dunkelblaue Mütze mit dem Schweizerkreuz-Wäppchen wenigstens einigermaßen abzustauben, bevor ich sie ihm reichte. Seine Ohren waren krebsrot. Es war merkwürdig; ich folgte ihm wie unter einem Zwang von Anstand. Durchaus wortlos und ohne mich anzufassen, was gar nicht nötig war, führte er mich auf die Wache, wo man mich fünfzig Minuten lang warten ließ.

»Bitte«, sagte der Kommissär, »nehmen Sie Platz!«

Der Paß lag auf dem Tisch. Sogleich verwunderte mich der veränderte Ton, eine Art von beflissener und nicht sehr gekonnter Höflichkeit, woraus ich schloß, daß meine amerikanische Staatsbürgerschaft, nach beinahe einstündiger Betrachtung meines Passes, außer Zweifel stand. Der Kommissär, als wollte er die Flegelei des jungen Zöllners wiedergutmachen, bemühte sich sogar um einen Sessel.

»Sie sprechen Deutsch«, sagte er, »wie ich höre.«

»Warum nicht?« fragte ich.

»Bitte«, lächelte er, »nehmen Sie Platz.«

Ich blieb stehen.

»Ich bin deutscher Abstammung«, erklärte ich, »Amerikaner deutscher Abstammung –«

Er wies auf den leeren Sessel.

»Bitte«, sagte er und zögerte eine Weile, sich selbst zu setzen ... Hätte ich mich im Zug nicht herbeigelassen, Deutsch zu reden, wäre mir möglicherweise alles erspart geblieben! Ein anderer Fahrgast, ein Schweizer, hatte mich angesprochen. Als Augenzeuge meiner Ohrfeige war er auch zugegen, dieser Reisende, der mir seit Paris auf die Nerven ging. Ich weiß nicht, wer er ist. Ich habe diesen Herrn nie zuvor gesehen. In Paris kam er ins Abteil, weckte mich, indem er über meine Füße stolperte, und verstaute sein Gepäck, drängte sich mit französischer Entschuldigung ans offene Fenster, um sich in schweizerischer Mundart von einer Dame zu verabschieden; kaum fuhr der Zug, hatte ich das leidige Gefühl, daß er mich musterte. Ich verschanzte mich dann hinter meinen zerlesenen ›New Yorker‹, dessen Witze ich bereits kannte, in der Hoffnung, daß sich die Neugierde meines Reisepartners gelegentlich erschöpfen würde. Auch er las eine Zeitung, eine zürcherische. Nach unsrer französischen Vereinbarung, das Fenster zu schließen, hütete ich mich vor jedem müßigen Blick durchs Fenster hinaus in die Landschaft; so deutlich wartete dieser Herr, der im übrigen ein reizender Mensch sein mochte, auf einen Anlaß zum Gespräch, seinerseits so befangen, daß mir schließlich nichts anderes übrigblieb als das Waggon-Buffet, wo ich fünf Stunden lang saß und einiges trank. Erst zwischen Mulhouse und Basel, von dem nahenden Grenzübergang genötigt, ging ich ins Abteil zurück. Der Schweizer blickte mich wieder an, als müßte er mich kennen. Was ihn plötzlich ermutigte, mich anzusprechen, weiß ich nicht; vielleicht der bloße Umstand, daß wir uns jetzt auf dem Boden seines Landes befanden. Entschuldigen Sie! fragte er etwas befangen: Sind Sie nicht Herr Stiller? Ich hatte, wie gesagt, einigen Whisky getrunken, verstand nicht, hielt meinen amerikanischen Paß in der Hand, während der Schweizer, in seine Mundart verfallend, eine Illustrierte aufblätterte. Hinter uns standen bereits zwei Beamte, ein Zöllner und ein anderer, der einen Stempel in der Hand hielt. Ich gab den Paß. Ich spürte jetzt, daß ich viel getrunken hatte, und wurde mit Mißtrauen betrachtet. Mein Gepäck, klein genug, war in Ordnung. Ist das Ihr Paß? fragte der andere. Erst lachte ich natürlich. Wieso nicht? fragte ich, nachgerade ungehalten: Wieso ist dieser Paß nicht in Ordnung?

Es war das erste Mal, daß mein Paß in Zweifel gezogen wurde, und all dies nur, weil dieser Herr mich mit einem Bild in seiner Illustrierten verwechselte ...

»Herr Doktor«, sagte der Kommissär zu eben diesem Herrn, »ich will Sie nicht länger aufhalten, jedenfalls danke ich Ihnen für Ihre Auskünfte.«

In der Türe, während der dankbare Kommissär die Klinke hielt, nickte er, dieser Herr, als würden wir uns kennen. Es war ein Herr Doktor, wie es sie zu Tausenden gibt. Ich hatte nicht das mindeste Bedürfnis zu nicken. Dann kam der Kommissär zurück, wies abermals auf den Sessel:

»Bitte«, sagte er, »wie ich sehe, Herr Stiller, sind Sie in einem ziemlich betrunkenen Zustand –«

»Stiller?« sagte ich, »ich heiße nicht Stiller!«

»– ich hoffe«, fuhr er unbekümmert fort, »Sie verstehen trotzdem, was ich Ihnen zu sagen habe, Herr Stiller.«

Ich schüttelte den Kopf, und dazu bot er Rauchwaren an, sogenannte Stumpen. Selbstverständlich lehnte ich ab, da er sie offenkundig nicht mir, sondern einem gewissen Herrn Stiller anbot. Auch blieb ich, obschon der Kommissär sich wie zu einer ausgiebigen Unterredung niederließ, meinerseits stehen.

»Warum haben Sie sich so aufgeregt«, fragte er, »als man sich erkundigte, ob das Ihr richtiger Paß wäre?«

Er blätterte in meinem amerikanischen Paß.

»Herr Kommissär«, sagte ich, »ich vertrage es nicht, wenn man mich am Ärmel...

Erscheint lt. Verlag 22.5.2011
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Auszeichnung • Dissoziative Störung • Gefängnis • Grosser Schillerpreis • Identität • Intertextualität • Klassiker • Max Frisch • Protokollstil • Roman • Schweiz • Schweizerische Schillerstiftung • ST 105 • ST105 • Stiller • suhrkamp taschenbuch 105 • Tagebuch Stil • Wilhelm-Raabe-Preis • Wilhelm-Raabe-Preis Auszeichnung • Wilhelm-Raabe-Preis, Auszeichnung
ISBN-10 3-518-73530-6 / 3518735306
ISBN-13 978-3-518-73530-5 / 9783518735305
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