Titos Brille (eBook)
272 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30330-8 (ISBN)
Adriana Altaras wurde 1960 in Zagreb geboren, lebte ab 1964 in Italien, später in Deutschland. Sie studierte Schauspiel in Berlin und New York, spielte in Film- und Fernsehproduktionen und inszeniert seit den Neunzigerjahren an Schauspiel- und Opernhäusern. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Bundesfilmpreis, den Theaterpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, den Silbernen Bären für schauspielerische Leistungen und den Deutschen Hörbuchpreis. 2012 erschien ihr Bestseller »Titos Brille«, 2014 folgte »Doitscha - Eine jüdische Mutter packt aus«, 2017 »Das Meer und ich waren im besten Alter«, 2018 »Die jüdische Souffleuse« und 2023 »Besser allein als in schlechter Gesellschaft«. Adriana Altaras lebt in Berlin.
Adriana Altaras wurde 1960 in Zagreb geboren, lebte ab 1964 in Italien, später in Deutschland. Sie studierte Schauspiel in Berlin und New York, spielte in Film- und Fernsehproduktionen und inszeniert seit den Neunzigerjahren an Schauspiel- und Opernhäusern. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Bundesfilmpreis, den Theaterpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, den Silbernen Bären für schauspielerische Leistungen und den Deutschen Hörbuchpreis. 2012 erschien ihr Bestseller »Titos Brille«, 2014 folgte »Doitscha – Eine jüdische Mutter packt aus«, 2017 »Das Meer und ich waren im besten Alter«, 2018 »Die jüdische Souffleuse« und 2023 »Besser allein als in schlechter Gesellschaft«. Adriana Altaras lebt in Berlin.
raffi
Raffi hat zuerst meine Eltern kennengelernt, dann mich. Er arbeitete als Moderator bei einem mittelmäßigen Münchner Fernsehsender, ein Job, den ihm sein Vater besorgt hatte, ihm gehörten Anteile. Raffi verabscheute seine Arbeit, fühlte sich permanent unterfordert, von seinen politischen Ambitionen ganz zu schweigen. Die Alternative wäre gewesen, den Jeansladen zu übernehmen, den sein Onkel am Rosenheimer Platz führte. Undenkbar. In den Sommermonaten, in denen er aushelfen musste, litt er wechselweise an Magenproblemen und Depressionen.
Man hatte ihn dazu verdonnert, eine Biolek-Sendung für den Abend abzunehmen, dabei war ich ihm auf dem Bildschirm über den Weg gelaufen. Er ließ sich beim Sender meinen Namen geben, rief die Auskunft an und landete bei meinen Eltern. Meine Mutter war entzückt: ein Jude, der nach mir suchte! Noch wichtiger: ein lediger Jude! Das Einzige, was er ohne Zögern mit Ja beantworten konnte. Meine Mutter gab ihm glücklich meine Mobilnummer, es dauerte keine zehn Minuten, und ich hatte ihn am Apparat. Als ich zwei Wochen später in München zu tun hatte, lud er mich ins Maon ein, das koscherste und schlecht gelaunteste jüdische Lokal Europas. Wir amüsierten uns prächtig, ohne eine Sekunde miteinander zu flirten. Seitdem trafen wir uns häufig, mal in München, mal in Berlin, bis er eines Tages mitsamt seinem Sender ganz in die Metropole zog.
Mittlerweile essen wir regelmäßig zu Mittag, wenn unsere empfindlichen Mägen es erlauben.
Raffi wäre mein Partner in der »Schul«, wenn wir in eine gingen. Wir würden uns dort über die Unterschiede zwischen dem Babylonischen und dem Jerusalemer Talmud bis aufs Blut streiten, stattdessen diskutieren wir im Restaurant über die Qualität des Wiener Schnitzels.
Auch ohne Talmud schafft es Raffi oft, mich zur Weißglut zu bringen. Doch inzwischen ist unser Verhältnis wie das von Geschwistern: gottergeben. Wir sind uns zu ähnlich, das wirkt sich unerotisch aus, jedenfalls auf mich. Am meisten bedauert meine Mutter diese Wendung der Dinge und mochte über unsere gemeinsame Postkarte »Liebe vergeht, Freundschaft besteht« gar nicht lachen.
Inzwischen behauptet Raffi, nur mit einer Jüdin glücklich werden zu können (mich meint er damit nicht!). Er findet in seinem neuen Kiez in Berlin seltsamerweise überproportional viele attraktive Jüdinnen. Es muss so etwas wie ein jüdisches Biotop sein. Mit einigen hat er leidenschaftliche Affären, die, mal schneller, mal langsamer, alle im Desaster enden.
Ich dagegen habe mich auf nichtjüdische Verhältnisse spezialisiert. Meinen Mann Georg betrachtet Raffi mit wachsendem Interesse. Er scheint zu denken: Wie hält es dieser ruhige, kluge Mann mit einer solchen Neurotikerin aus? Oder: Was will diese spritzige Frau von einem derartigen Langweiler? Zu mir direkt sagt er immer nur: Doch, doch ich mag ihn, er ist nett, irgendwie. Er selbst allerdings ist auch nicht 100% koscher: Er hat ein Kind mit einer Nichtjüdin, aber darüber spricht er sehr ungern …
An meinem letzten Geburtstag haben wir eine idiotische Abmachung getroffen: Er würde weiter bei seinen Jüdinnen bleiben, ich bei meinem Deutschen. Eine Art Versuchsanordnung, ein Selbstversuch über drei Jahre. Von Zeit zu Zeit würden wir vergleichen, wer glücklicher ist. Notfalls könnten wir nach diesem Experiment immer noch zusammenkommen und viele neurotische, jüdische Kinder zeugen.
Das war schon bei meinen Eltern ein Lieblingsthema:
»Wenn du uns keinen Juden heiratest, können wir dir nicht in Ruhe sterben.« (Meine Mutter)
»Na wunderbar, dann lebt ihr noch ein Weilchen.« (Ich)
Einer der Standarddialoge bei uns zu Hause.
Meine Männer waren groß, blond, blauäugig. Hießen Dieter, Uwe, Heinz oder Jens. Jens war Karate-Europameister, wog 120 kg auf 2,04 m Länge.
»Gehst du jetzt nach Gewicht?«, war der einzige Kommentar meiner Mutter.
Ja, ich ging nach Größe, Gewicht und irgendwie nach Augenfarbe. Gemeinsam hatten alle, dass sie »arisch« waren durch und durch. Aber auch sie pickten mich unter vielen heraus. Ob im ICE-Speisewagen oder im Jazzclub, ich ging nie mit leeren Händen nach Hause. Manche hatten Überbiss, andere waren studiert. Es gab Stuckateure und CDU-Wähler.
»Warum alles, nur keine Juden?«, insistierte meine Mutter.
»Mama, was ist denn daran so verwunderlich? Schon prozentual gesehen ist die Auswahl an deutschen Liebhabern ungleich größer als an jüdischen.« Ich ahnte, dass das nicht der einzige Grund sein konnte. Etwas hielt mich davon ab, jemanden zu lieben, der dieselben Empfindlichkeiten und Neurosen hatte wie ich. Dessen Vergangenheit ihn mehr beschäftigte als die Gegenwart, der eine Familie hatte, die sich in alles einmischte und bei allem mitredete.
Georg war geblieben. Wahrscheinlich war er der Einzige, der mich aushielt. Auch ein Auswahlkriterium.
Heute hat Raffi besonders schlechte Laune. Ich weiß nicht, ob es an den Geliebten liegt oder ob ihm das Wetter zu schaffen macht. Ich habe Augenringe, die Beerdigung hat Spuren hinterlassen. Wir sitzen in Berlin-Mitte in einem dieser modernen Cafés. Es zieht wie Hechtsuppe.
»Es liegt an den vielen Toten in dieser Stadt«, sagt er. »Also, nicht an den Toten von heute. Die von damals, ist ja klar. Man entkommt ihnen nicht, alles ist morbide. In München ist es besser, und Mittagessen kann man hier auch nicht richtig.«
Ich weiß, was er meint.
Mein rechtes Auge ist seit gestern geschwollen – Hausstauballergie. Ich sollte einfach nie wieder putzen oder aufräumen. Wir sind zwei Elendshaufen.
Es regnet. Eigentlich möchte ich Raffi das Foto zeigen, das meine Schwester mir gegeben hat, aber ich traue mich nicht.
Wir stochern lustlos im Essen herum. Raffi versucht, sich an einen Witz zu erinnern: »Warum hast du deine Frau nicht mitgenommen? – Tja, es gibt viele Gründe …«, weiter weiß er nicht. Er fängt dreimal vergeblich von vorne an. Das ist öde.
»Ach«, fällt ihm ein, »erstens, sie war nicht eingeladen …«
»Den kenne ich schon«, sage ich, »aber mit Glocken. ›Warum läuten die Glocken nicht, wenn ich komme?‹, fragt der Minister, als er zu Besuch kommt. ›Es gibt viele Gründe‹, antwortet ihm der Bürgermeister. ›Erstens: Wir haben keine.‹«
Der Witz ist eigentlich gar nicht so schlecht.
Ich bestelle uns einen Grappa, was wir selten tun, aber angesichts der Stimmungslage angebracht ist. Statt das Foto herauszuholen, plappere ich drauflos, von Dingen, die er schon kennt, unserer Wohnungsodyssee beispielsweise. Einer meiner Dauerbrenner.
Eine Weile hatten Georg und ich alle Möbel bei Zapf im Container eingelagert. Zwei Jahre wohnten wir bei verschiedenen Freunden. Wir hatten davor in Kreuzberg gewohnt, und irgendwann, als unsere Wohnung zu Eigentum umgewandelt wurde, begann eine regelrechte Odyssee. Wir sahen uns Hunderte von Wohnungen an, in allen möglichen Stadtteilen. Meine Eltern pochten auf Eigentum, das machte die Sache nicht leichter. Von Weißensee über Kleinmachnow, von Schmargendorf bis Neukölln. Mal unter dem Dach, dann wieder in einem Einfamilienhaus. Ich konnte mir alles vorstellen und malte mir die diversen Lebensstile so lebendig aus, dass mir allein das schon genügte. Es war mir sogar lieber, als sie wirklich auszuprobieren. Und so suchte ich munter weiter. Ankommen war gleichbedeutend mit Stillstand, Tod. Das hat kulturgeschichtliche Gründe, natürlich. Irgendwann verlangte Georg, ich solle mich entscheiden. Die Kinder würden sich endlich ein eigenes Bett wünschen. Wir fanden eine schöne Etage in einer Villa in Wilmersdorf. Es schien abgemacht. Die Villa war von 1938, ein Wehrmachtsoffizier hatte sie bauen lassen.
»Ich hörte seine Schritte im Flur. Ich hörte ihn reden. Wie kann man in ein Haus einziehen, das noch 1938 gebaut wurde? Das kann nur ein Verbrecher gebaut haben, verstehst du? Da konnte ich nicht einziehen! Unmöglich!«, erzähle ich Raffi.
Wir unterschrieben nicht. Wenig später in einer Wohnung am Bayrischen Platz schien es mir, als sei sie noch bewohnt.
»Eine Frau geisterte darin herum, eine, die sich versteckte, eine nicht Deportierte. Man hatte sie vergessen. Da kann man doch auch nicht einziehen«, flüstere ich.
»Ich verstehe«, sagt Raffi.
Wir haben’s nicht leicht.
Wir schweigen und hören dem Regen zu.
»Irgendwann haben wir dann unsere neutrale, nahezu geschichtslose Altbauwohnung in Schöneberg gefunden.«
»Eine Altbauwohnung ist nie geschichtslos«, sagt Raffi. Wir schweigen wieder.
»Ja, meine Wohnung jetzt ist ganz schön«, unterbreche ich ungefragt die Stille, »sie scheint keine Geister zu beherbergen. Aber sie hat auch keinen Garten …«
»Hast du im vierten Stock einen Garten erwartet? Du wohnst eben im falschen Stadtteil«, murmelt Raffi.
Wir schweigen beseelt weiter.
Wenn Raffi nicht nervt, kann er ausgesprochen charmant sein. Das kommt vor, hält allerdings nie lange an.
»Warum trägst du eigentlich nie Jeans?«, fragt er unvermittelt.
»Weil sie mir nicht stehen.«
»Es gibt für jeden die passende Jeans!«, doziert er plötzlich, als wäre er doch im Laden seines Onkels gelandet, würde mit Hingabe Jeans verkaufen und ich drohte, seine Verkaufszahlen zu ruinieren.
»Raffi, hör mal …«, versuche ich dazwischenzugehen.
»Es gibt Jeans, die erinnern einen an die Pubertät, und andere, die machen sie einen vergessen.«
»Raffi, hör auf mit deinen dämlichen Jeans.«
»Hast du deine Tage?«, grinst er.
Nein, er ist heute nicht...
Erscheint lt. Verlag | 23.2.2011 |
---|---|
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Adriana Altaras • Eltern • Erinnerung • Familie • Familiengeschichte • Geheimnis • Geschichte • Judentum • Jüdisch • Jüdische Familien • Jüdische Familiengeschichte • Jüdische Geschichte • Tod der Eltern • Tod Elternteil • Vergangenheit • Verlust |
ISBN-10 | 3-462-30330-9 / 3462303309 |
ISBN-13 | 978-3-462-30330-8 / 9783462303308 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,6 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich