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Amerikanische Reise (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2010 | 1. Auflage
256 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-40398-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Amerikanische Reise -  Ulrich Woelk
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Ulrich Woelks Roman ist mehr als nur ein packendes Roadmovie: Er zeichnet das überzeugende Porträt einer Generation, die Freiheit nur noch als Verlorenheit kennt. Jan, 35 Jahre alt, liebt das unbeschwerte Leben, liebt die Frauen. Er fliegt nach New York, um seinen alten Freund Walter und dessen Frau Kristin zu besuchen. Das Ehepaar allerdings liegt im Streit. Kurz entschlossen nimmt Kirstin Jan auf eine Reise durch Amerika mit, und beide rollen in einem alten Buick ins Ungewisse. Als Walter jedoch der illegalen Spekulation mit Aktien beschuldigt wird, offenbaren sich die wahren Hintergründe dieser Reise. Ulrich Woelk zeichnet das überzeugende Porträt einer Generation, die Freiheit oft nur als Verlorenheit kennt. 

 Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, studierte in Tübingen Physik und promovierte 1991 an der TU Berlin, wo er bis 1994 als Astrophysiker tätig war. Literarische Arbeiten seit den 1980er Jahren; »Aspekte«-Literaturpreis für das Debüt >Freigang< (1990). Seither erschienen Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Der Roman >Die letzte Vorstellung< wurde mit Heino Ferch und Nadja Uhl für das ZDF verfilmt (>Mord am Meer<). Ulrich Woelk lebt in Berlin. 

 Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, studierte in Tübingen Physik und promovierte 1991 an der TU Berlin, wo er bis 1994 als Astrophysiker tätig war. Literarische Arbeiten seit den 1980er Jahren; »Aspekte«-Literaturpreis für das Debüt ›Freigang‹ (1990). Seither erschienen Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Der Roman ›Die letzte Vorstellung‹ wurde mit Heino Ferch und Nadja Uhl für das ZDF verfilmt (›Mord am Meer‹). Ulrich Woelk lebt in Berlin. 

1 jet lag


Einsamkeit kann es nur geben, wo es Individuen gibt. Wo es Individuen gibt, aber gibt es beides: die Lust zur Individualität und damit den Drang in die Einsamkeit und das Leiden an der Individualität und damit den Drang aus der Einsamkeit. Dabei kommt es immer nicht auf das Individuum-Sein an, sondern darauf, ob einer sich als Individuum fühlt und weiß.

KARL JASPERS, Einsamkeit

 

Nach diesem ganzen Trara (und da war noch mehr) kam ich an einen Punkt, wo ich Einsamkeit brauchte, wo ich diese Maschine anhalten mußte, um nicht mehr zu »denken« und das, was sie »Leben« nennen, nicht mehr zu »genießen«, ich wollte mich einfach ins Gras legen und in die Wolken sehen.

JACK KEROUAC, Allein auf einem Berggipfel

 

Es gibt viele Gründe, eine Zigarette zu rauchen. Tatsache ist aber, daß die meisten Zigaretten völlig grundlos geraucht werden und sich vor den Augen des Rauchenden in Luft auflösen, ohne daß dieser sie wirklich bemerkt. Mehr noch: Man ist erst dann Raucher, wenn man Zigaretten nicht mehr wahrnimmt, wenn der Griff zur Schachtel, der zum Feuerzeug, das Anzünden und der erste Zug eine Bewegungseinheit bilden wie das Auskuppeln, Schalten und Einkuppeln beim Autofahren oder das Schließen der Haustür und das Drehen des Schlüssels im Schloß, das so unbewußt geschieht, daß man kurz nach Beginn einer Reise gelegentlich beunruhigt ist, man könne die Tür nicht verschlossen haben. Ebenso ist kein Raucher in der Lage, am Ende eines Tages zu sagen, wie viele Zigaretten er geraucht hat, er kann es nur schätzen, die Zigaretten selbst erreichen sein Bewußtsein nicht – nicht mehr.

Wer mit dem Rauchen beginnt, tut es nicht wegen des Rauchens, sondern wegen der damit verbundenen Rituale. Egal, ob in einer Arbeitspause oder auf einer Bergspitze – die Zigarette ist ursprünglich der Versuch, nach einer Phase der Konzentration auf anderes, zurück zu sich selbst zu finden, und sie gleicht darin mehr einer Hostie als einem Genußmittel. So vertraut auch die Werbung der Zigarettenhersteller auf den rituellen Charakter des Rauchens, und man muß zugeben, daß es in einer Zeit, die eher unter einem Zuwenig als unter einem Zuviel an Ritualen leidet, genügend Gründe gäbe, mit dem Rauchen zu beginnen. Allerdings gibt es mindestens ebenso viele, die dagegen sprechen, wobei die schwarzen Lungen verstorbener Raucher eher unbedeutend sind gegenüber der Tatsache, daß es keinen Sinn macht, zwanzig oder vierzig Hostien am Tag zu schlucken. Der einzige Ausweg aus dieser Zwickmühle kann nur sein, mit dem Rauchen anzufangen, um anschließend wieder damit aufzuhören. Das ist nicht leicht, aber kein vernünftiger Mensch käme auf den Gedanken zu verlangen, das Leben müsse immer leicht sein. Kaum ein Raucher, der nicht regelmäßig mit dem Gedanken spielte aufzuhören, denn niemand kann so tun, als gäbe es die Zeit nicht, die aus jedem Ritual irgendwann eine leere Gewohnheit macht. Es ist zwar möglich, auch Gewohnheiten bis ans Lebensende fortzuführen, aber vielleicht müßte man es erreichen, selbst wenn man dazu auf Dauer die Kraft gar nicht haben kann, stets aufs neue Rituale aufzubauen und sie anschließend wieder zu zerstören.

 

Vor einem halben Jahr hatte Jan mit dem Rauchen aufgehört. Das letzte mit einer Zigarette verbundene Ritual, das eine Spur in seinem Leben hinterlassen hatte, lag allerdings schon länger zurück, vier Jahre ungefähr, eine Abschiedszigarette: Kristin stand ihm auf dem Frankfurter Flughafen gegenüber, während Walter, ihr Mann, zu einem Kiosk ging, um ein paar Zeitschriften zu kaufen, seine Börsenblätter, einen Spiegel.

Die Anzeigetafel tickerte, und die Buchstaben und Flugnummern huschten über die schwarze Fläche wie die Bildchen eines Daumenkinos. Gelegentlich rieselte ein Aufruf von der Decke. Jan bot Kristin damals eine Zigarette an, obwohl sie nur selten rauchte – sie überlegte kurz und nahm dann eine. Er beugte sich vor und gab ihr Feuer. Er wurde damals von einer seltsamen Stimmung erfaßt, die zwar kaum zur Situation paßte, die ihn aber angenehm durchdrang: Es kam ihm vor, als müsse er sich nicht von ihr verabschieden, sondern als stehe sie ihm nach einem Fest gegenüber in einem Zimmer mit halb geleerten Gläsern, einer von Plaudereien verbrauchten Luft und unbeachteter Musik im Hintergrund. Es war, als müßten sie sich nur noch darüber verständigen, zu wem sie jetzt gehen sollten, zu ihm oder zu ihr.

Nach einer Weile kam Walter zurück und verkündete die Neuigkeiten irgendwelcher Schlagzeilen. Es war klar, wohin sie gingen: Jan nach Hause und Kristin ins Flugzeug, mit Walter, seinem ältesten Freund. Sie drückten die Zigaretten aus.

 

Jetzt steht Jan, sein Handgepäck zwischen den Füßen, unsicher in dem überbreiten Passagierbus und sieht auf die Maschinen, die schwer und träge auf dem Zement des Rollfelds stehen. Die Triebwerke unter den Flügeln sind kaum kleiner als der Bus, in dem er an ihnen vorbeischaukelt. Die Turbinenöffnungen mit den langsam rotierenden Lamellen ziehen vorüber, zwei Wolkenmühlen, die sich in Kürze durch sechstausend Kilometer Luft fressen sollen. Dann steht er auf der Gangway und wartet, ein fast altmodischer Augenblick. In der Maschine schiebt er sich mit kleinen Schritten an den Stewardessen vorbei, die jeden Fluggast begrüßen wie auf einer Cocktailparty. Jan kennt die Situation gut: der Stau im Gang, die Platzsuche und die Überlegung, wen man als Nachbarn erwischt, als Nachbarin – ein kurzer Polaroidblick, den man entwickelt, während man das Gepäck verstaut. Dann grüßt man unverbindlich wie alle. Vielleicht wird man sich in ein paar Stunden ebenso unverbindlich verabschieden. Oder man stirbt gemeinsam.

Jan setzt sich und überhört die Sicherheitshinweise. Er wartet beschäftigungslos auf den Moment, in dem sich die Rollbahn von den Reifen löst, um langsam in die Tiefe zu sinken und sich erst Stunden später in einem anderen Teil der Welt wieder zu nähern. Er wartet auf den Kampf um die Armlehne. Nach dem Start werden heiße Tücher verteilt, um den Schweiß von Händen und Nacken zu wischen. Als nächstes gibt es ein Schokolädchen wie zur Belohnung, weil keiner hysterisch geworden ist. Der Rumpf senkt sich langsam zurück in die Horizontale, und die Maschine erreicht ihre Reisehöhe. Jan hat acht Stunden vor sich, mit denen er nichts anzufangen weiß. Er nimmt sein kleines Aufnahmegerät aus der Jackentasche, einen Panasonic-Kassettenrekorder, den er seit Jahren mit sich trägt, um auf Reisen seine Beobachtungen auf Band zu sprechen. Im Moment allerdings gibt es nichts festzuhalten, und Jan sieht hinaus auf den Flügel, der die Maschine begleitet wie ein metallischer Schatten. Darüber wölbt sich das Violett des Dreißigtausend-Fuß-Himmels. Die Eiskristalle auf den Fenstern bilden einen neblig glitzernden Rahmen, der aussieht wie bei den eingepuderten Fernsehbildern zu Weihnachten.

Jan wird den Gedanken an Kristin nicht los, seit er sich ins Taxi gesetzt hat und zum Flughafen gefahren ist durch die noch ruhigen Straßen, in denen die Luft stand wie Wasser in einem unbenutzten Schwimmbecken. Die Baumkronen trieben auf der Oberfläche, angestrahlt von einer hinter Häuserfassaden verborgenen Sonne. Dann eine von Helligkeit geflutete Kreuzung, die Ampeln spielten mit Farbbällen. Der Wagen rollte vorbei an Kaufhäusern, Bankfilialen, Restaurants und Reisebüros. Dann endete die Häuserzeile, und die Straße verlief parallel zu einem Kanal, Paillettenteppiche kräuselten sich auf dem Wasser. Im Hintergrund bereits der Flughafen. Jan trug seine Tasche zum Eingang, die Automatiktür öffnete sich, das Gebäude schluckte ihn, und in ein paar Stunden wird es ihn wieder ausspucken, siebentausend Kilometer entfernt, ein großes Gebäude, ein weltumspannendes Gebäude, das Kristin lediglich durch eine andere Tür betritt.

Es ist erstaunlich, wie das Fliegen innerhalb von wenigen Jahrzehnten von einer ehrfurchtgebietenden zu einer gewöhnlichen Fortbewegungsart geworden ist. Es kommt einem vor, als sei die Menschheit, die über Jahrtausende vom Fliegen geträumt hat, gar nicht in der Lage, sich über die Verwirklichung dieses Traums angemessen zu freuen. Allerdings muß man zugeben, daß die Realität eines Langstreckenfluges in der Tat ernüchternd ist und aus nichts als einer Summe von dummen Beschäftigungen besteht: Mit der Rückenlehne spielen, vor und zurück, ein bißchen vor und ein bißchen zurück, ein Zeitvertreib, den man dem Vordermann nicht zugesteht. Die Frischluftdüsen, kleine aggressive Föne, denen man die Gurgel umdreht. Die Zeitung auffalten und wieder zusammenfalten und wieder auffalten und wieder zusammenfalten. Aufstehen, weil der Nebenmann pinkeln muß. Aufstehen, weil der Nebenmann vom Pinkeln kommt. Die Stewardessen anlächeln. Der Geruch Hunderter, wie auf Kommando entfalteter Erfrischungstücher. Pulvermilch in Kaffee rieseln lassen. Das Staubsaugerrauschen der Triebwerke. Die Durchsage des Captains über die aktuellen Flugdaten – verknistert, als melde er sich per Funk von zu Hause. Wieder das Lächeln der Stewardessen, alle sitzen im gleichen Boot. Man nimmt alles, was kommt. Vierhundert Menschen, die in einer Aluminiumröhre Truthahnlasagne essen 

 

Jans Angewohnheit, auf seinen Panasonic-Rekorder zu sprechen, stammt aus der Zeit, als er noch frei für Zeitschriften und Journale gearbeitet hat. Es war die einfachste und schnellste Möglichkeit, Beobachtungen und Situationen zu protokollieren, um aus diesen später seine Artikel zusammenzusetzen. Darüber hinaus gewöhnte er sich an, neben diesen Notizen auf Band regelmäßig...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2010
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aktienspekulation • Autofahrt durch die USA • Belletristik • Berlin • Deutschsprachige Gegenwartsliteratur • eBook • Gegenwartsliteratur • Generationenporträt • Monument Valley • New York • Roadnovel
ISBN-10 3-423-40398-5 / 3423403985
ISBN-13 978-3-423-40398-6 / 9783423403986
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