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Die schlaflose Welt (eBook)

Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1909-1941

(Autor)

eBook Download: EPUB
2010 | 1. Auflage
304 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400203-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die schlaflose Welt -  Stefan Zweig
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Mit einem Nachwort von Knut Beck. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Stefan Zweig nutzte seine Ausdruckskraft, die Eindringlichkeit seiner Sprache, um vor allem mit seinem Geschichtswissen - über das augenfällig »dramatische« und psychologische Element hinaus - einem besseren Verständnis von Humanität zu dienen. Seine geschichtsphilosophischen Betrachtungen sind dabei immer auf seine Zeit bezogen und spiegeln einen Grundzug seines Wesens: die ständige Bereitschaft, anderen zu helfen, auch mit dem Wort. Die Umsetzung dieser Forderung an sich selbst in die Tat im Laufe seines Lebens zu verdeutlichen, ist Ziel dieser Auswahl.

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ?Die Welt von Gestern? und die ?Schachnovelle?. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ›Die Welt von Gestern‹ und die ›Schachnovelle‹. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.

Das Land ohne Patriotismus


Immer wenn ich nach mehrmonatiger Abwesenheit vom Ausland nach Österreich zurückkehre, mischt sich mir dem wohligen Gefühl des Heimatlichen irgendein anderes bei, das kaum in ein einziges Wort zu fassen wäre. Mißbehagen wäre zu viel und Bedauern zu wenig, und doch beinahe körperlich empfinde ich’s, so stark dringt hier Eigenart der Stimmung von den Dingen ins Blut. Das Atmosphärische, spüre ich, hat sich verändert, man atmet gedrücktere, schwülere Luft, der Takt, der Rhythmus der Umwelt ist plötzlich verlangsamt, irgendeine Spannung, die den Körper befeuernd belebte, ist hingeschwunden an der seelischen Mattheit einer ganzen Bevölkerung. Auch hier schwingt in Wien, der Millionenstadt, das Rad der Zeit durch den Tag, aber langsamer, gehemmter und widerwilliger. Fragend sieht man sich um. Ein Blick in die Zeitungen, um zu sehen, was inzwischen geschehen ist, aber es ist immer noch das Gleiche wie damals: Plänkeleien, Spannungen zwischen den Nationen. Aus dem politischen Leben steigt statt des hinreißenden Stromes stärkerer Aktionen und Gegenaktionen nur der trübe Dunst kleiner politischer Gärungen, oft untermengt mit dem übelriechenden Atem von Korruption. Nirgends spürt man große einheitliche geschlos- Pläne, immer nur Vorschläge zu Flickwerk und Verbesserungen. Die Beamten, mit denen man zusammengerät, sind müde und verdrossen, die Künstler ironisch, und selbstbesorgt der Handwerker, der Arbeiter, das ganze Proletariat gedrückt von täglichen Sorgen. Ein tragischer Pessimismus erfüllt die geschäftliche Welt, Klagen, Unzufriedenheiten von allen Seiten. Nirgends schlägt in diesem Lande hell und schön die große befreiende Flamme der Freude und Zuversicht empor.

Irgend etwas fehlt hier, das spürt man. Irgend etwas, das die Menschen mehr zusammendrängte, das Nebeneinander vieler arbeitender Existenzen zusammenglühte in eine große Idee, eine edle, reine, über das einzelne Wesen strebende Hoffnung, die beschwingt, jenen gemeinsamen Stolz, der auch den Geringsten stählt, jene herrische Selbstfreude, die trunken macht. Zerbröckelt ist alles und vereinzelt und damit in beständigem Widerstreit. Es fehlt, und bald erkennt man’s als fehlend in allem jenes Erhabene, das ein Reich wirklich zur Nation macht, eine Menschenmasse zu einem Volk, der einheitliche Glaube – oder wenn man will: der Wahn – des Patriotismus, der unbedingten Heimatliebe. Es gibt hier in Österreich keinen österreichischen Patriotismus, keinen Nationalismus, wie es einen deutschen, wie es einen französischen, einen italienischen und englischen gibt, jene höchste Einheit aus Sprache, Rasse, Stolz und Überschwang gehämmert, die gleichsam das vom Einzelnen ins Allgemeine erhöhte Selbstbewußtsein schöpferisch verwirklicht.

Österreich ist heute die einzige Nation in ganz Europa, die nicht einheitlich nationalistisch ist, die sich nicht selbst überschätzt, und das ist ihr Unglück. Dostojewski hat einmal (ungefähr) gesagt, eine jede Nation, die wirken wolle und sich eine Zukunft erobern soll, müsse sich als die beste und die einzig notwendige im Weltall empfinden. Sie muß ungerecht sein, weil aus dieser Selbstüberschätzung Kräfte entwachsen, weil in jedem Chauvinismus eine Bindung liegt, eine Stärkung und ein Rausch. Und diese Sekunden des Rausches einer Millionenmasse, sind sie denn nicht auch die wundervollsten, die der Einzelne erleben kann, wirkliche Feste einer Zeit, in der das religiöse Empfinden schwächer geworden und durch das nationale fast entwertet worden ist? Sind sie nicht in unser aller Leben die schönsten Augenblicke, die der großen Gemeinsamkeit? Deutschland: ich erinnere mich an einen Tag auf den Türmen von Straßburg, als der Zeppelin-Ballon (es war der Tag seines Untergangs) zum ersten Mal seine große Fahrt unternahm. Eine ganze Stadt in Aufregung, Jubel von Hunderttausenden schwoll auf, durch ganz Deutschland ging ein knabenhaftes und doch wunderbar schönes Vertrauen, jetzt sei die Weltherrschaft gesichert, der große Traum erfüllt. Oder Italien: in Venedig an einem Abend, als die Blätter einen Sieg in Tripolis melden. In einem Nu der ganze Platz von den Zeitungen wie mit weißen Vögeln überflogen, Jubel und Gesang, aus allen Gassen Musik, Fanfaren und Überschwang. Und man wußte, so rauscht es in dieser Sekunde durch das ganze Land, so bebt eine ganze Nation von Sizilien hinauf bis zum Alpenrand in einem einzigen Gefühl. Paris: hier erlebt man’s fast jeden Tag, zu jeder Sekunde, wenn die Regimenter auf die Frühjahrsparade marschieren oder Blériot den Kanal überflogen hat; hier spürt man’s in jedem Moment, wenn irgendwo die Marseillaise gespielt wird und die Worte plötzlich Jubel und Gesang werden, keiner weiß es, wieso. In allen diesen Ländern ist ein einheitliches Gefühl in Millionen einzelner Herzen eingeschlossen, und eine einzige Sekunde läßt da oft die Milliarden Tropfen Eigengefühl zusammenströmen, und dann rauscht es hin in die Welt, in die Zeit, ein hinreißender Strom der Begeisterung.

Nur hier in Österreich kennt man diesen Rausch nicht und diesen Jubel, weil wir keinen rechten Patriotismus haben, kein unbedingtes Gemeingefühl. Und das ist keines Schuld. Jedem einzelnen ist ja dadurch etwas genommen, eine reine Möglichkeit der Selbsthingabe an ein großes Ziel. Aber wir können nicht Einheitliches haben, weil unser Österreich durch eine merkwürdige Konstellation der Tatsachen ein Mehrfaches geworden ist und dies Land nicht bloß einen Patriotismus von uns fordert, sondern drei und vier. Wir sind erstlich Österreich-Ungarn. Wenn an der ungarischen Grenze ein Dorf, ein Landstrich bedroht ist, muß unser Gefühl sofort einschnappen, und wir müssen’s als Wunde am eigenen Fleisch fühlen. Aber wir müssen als Österreicher sofort umschalten können, wenn es sich um einen Zwist zwischen Österreich-Ungarn handelt, und Ungarn, dies unser Fleisch und Blut, in derselben Stunde wieder als Fremdkörper, als Feind empfinden können. Wir sollen also organisch verbunden sein und doch geteilt wie die Zwillinge aus Siam, die zwei Herzen haben und nur ein Blut. Dieser abgespaltene Österreicher muß sich aber nochmals teilen, er muß auch Deutscher sein, muß, wenn es die Sprache, das heiligste Gut der Nation gilt, sofort seinen eigenen Bruder, den Tschechen, den Kroaten, als den gefährlichen Gegner empfinden können. Dieses dreifache Patriotengefühl auf Umschaltung muß selbstverständlich jeder Spannkraft entbehren, und so schwankender Ideale der Sinnlichkeit. Österreich-Ungarn oder nur Österreich läßt sich historisch und auch politisch als Begriff erklären, sogar als Notwendigkeit, aber es erklärt sich nicht spontan im Gefühl. Und hier liegt einer der Hauptgründe, weshalb unsere Politik so mit Schwierigkeiten arbeitet, weil sie niemals das sinnliche Wort finden kann, das wie ein Funke in den Zunder fällt. Elsaß-Lothringen: für den Franzosen ist das keine Idee, nichts, was er bloß im Hirn fühlt, sondern eine Wunde im eigenen Fleisch, das Trentino eine Narbe für Italien, die gärt und schwärt. Albanien aber oder der Handelsweg nach Saloniki, das sind geistige Notwendigkeiten, die der politisch klare Kopf vielleicht mit gleicher Stärke begreift, wie der Franzose seine nationale Notwendigkeit, aber doch bloß der Kopf, und die Masse hört mit dem Herzen. Das Wort Elsaß-Lothringen in rechter Stunde gesagt, kann wirken wie ein Zündholz an der Reibfläche. In einer Sekunde springt die Flamme im Volke auf und Europa steht im Brand. Bei uns sind alle Argumente feucht von Gedanklichkeit und entzünden im Körper des Volkes keine Wärme. Wo keine Einheit ist, kann keine einheitliche Idee entstehen. Volksideen entstehen nur aus einem Gefühl, aus einer Sprache, nicht aus historischen Klitterungen und logischen Nötigungen.

Wir haben keinen Patriotismus: das will aber nicht sagen, daß wir keine Patrioten haben. Wir haben sogar zweierlei: jene Allerweltspatrioten natürlich, die die Österreicherei systematisch betreiben, bei allen Anlässen sich vordrängen, in Komitées und Vereinen ordenshungrig ihr Wesen treiben, aber unfähig sind eines wahrhaften Opfers. Nirgends ist ja der offizielle Patriotismus so dankbar als in einem Lande, wo er nicht ganz natürlich ist, nirgends sind die Auszeichnungen, die Adelsprädikate, die Kommerzialratsstellen darum so wohlfeil wie bei uns. Daneben gibt es aber vielfach auch einen echten Patriotismus, den der Tradition, den der Armee, aber es ist einer, der sich nicht so sehr auf das ganze Land, auf die österreichische Nationalidee bezieht, sondern auf nachbarliche, nicht aber identische Begriffe, auf den Kaiser, auf die Kriegsmacht oder auf einzelne Länder. Es gibt nationale Deutsche, nationale Tschechen, die Österreich als Notwendigkeit empfinden, aber nicht als eine absolute, in sich selbst beschlossene, sondern als Notwendigkeit zweiter Ordnung, als Vorteil ihres hohen Volksgedankens. Aber es gibt keine Österreicher, die nur Österreicher sind und nicht in erster Linie Deutsche oder Tschechen. Diese Ureinheit des Gefühls fehlt uns, wird uns ewig fehlen, und dies, das Fehlen des Einheitsgefühles ist im letzten das Unglück Österreichs.

Unverkennbar: an diesem Mangel krankt der Staat Österreich. Er ist wie ein gesunder starker Organismus mit allen Fähigkeiten, dem nur das geheimnisvollste Vitalitätsprinzip fehlt: die Seele. Und dieser Einheitslosigkeit entspringt alle jene hemmende quälende Verdrossenheit, ihr und einem andern noch: Österreich, der Staat, hat zu lange keine Freude gehabt. Seit hundert Jahren immer nur verkleinert, geschwächt, unter schlechtem Regime verbittert und verschuldet, ist er verdrossen geworden. Ein Sieg, ein militärischer, ein politischer, und das Blut hätte rascher gerollt in diesem uralten Körper. Man denke nur, wieviel...

Erscheint lt. Verlag 30.6.2010
Reihe/Serie Gesammelte Werke in Einzelbänden
Gesammelte Werke in Einzelbänden
Nachwort Knut Beck
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
Schlagworte Alfred H. Fried • Aufruf • Aufsatz • Belgien • Betrachtungen • Deutschland • Essay • Essays • Frankreich • Geschichte • Geschichtsphilosophie • Henri Barbusse • Historie • Humanismus • Julius Caesar • Karl V. • Österreich • Patriotismus • Polen • Politik • Porfirio Diaz • Rede • Rotes Kreuz • Vortrag • Wien
ISBN-10 3-10-400203-7 / 3104002037
ISBN-13 978-3-10-400203-3 / 9783104002033
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