Behalt Dein Herz. Ihr könnt mich mal (eBook)
224 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-75937-5 (ISBN)
Stephan Knösel hat als Drehbuchautor an fünf Fernsehfilmen und über achthundert Serienepisoden mitgewirkt. Er lebt und arbeitet in München. Für sein Debüt 'Echte Cowboys' wurde er u. a. mit dem Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium ausgezeichnet; sein Roman 'Jackpot - wer träumt, verliert' war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
1
Idris flog zwar nicht wie Superman in bunter Unterwäsche durch die Gegend – trotzdem war er ein Held für mich. Er hatte einfach diesen Mut und so ein unglaubliches Selbstbewusstsein. Das waren zwei Eigenschaften, die mir komplett fehlten – und damit trat er genau im richtigen Moment in mein Leben.
Ganz am Anfang hielt ich ihn allerdings für einen ziemlichen Blödmann. Wir begegneten uns am ersten Tag der Sommerferien. Es war ein sonniger Samstag und zugleich mein vierzehnter Geburtstag. Ich hatte mich um acht Uhr früh mit meinem Fußball aus der Wohnung geschlichen. Meine Mutter schlief noch und Fonsi, ihr Chef, übernachtete bei ihr.
Weil es mein Geburtstag war, hatte ich vorher einen 10-Euro-Schein aus dem Versteck in meiner Matratze gezogen, um mir beim Bäcker zwei Nusshörnchen zu kaufen. Damit und mit einem Kakao wollte ich es mir erst mal gemütlich machen – auf der Hochsprungmatte auf dem Sportplatz meiner Schule. Immerhin hatte ich ja Geburtstag.
Der Hausmeister, Herr Scherbl, ließ mich am Wochenende immer auf dem Sportplatz spielen. Manchmal kickte er sogar mit, wenn wir zu mehreren auf dem Platz waren. Nur war Herr Scherbl anscheinend schon im Urlaub. Es öffnete niemand, als ich an der Hausmeisterwohnung klingelte.
Mir blieb also gar nichts anderes übrig, als über den drei Meter hohen Maschendrahtzaun zu klettern, der den Sportplatz umgab. Ich schlappte da rüber und wollte vorher noch meinen Fußball über den Zaun kicken – mit links, weswegen ich es nicht auf Anhieb schaffte.
Doch als ich mich umdrehte, um den Abpraller aufzusammeln, stand da dieser Mann. Er trug eine Uniform, die nach Polizist aussah, aber es war keine richtige Polizeiuniform. Er hielt meinen Ball in beiden Händen vor der Brust und kaute Kaugummi, während er mich durch eine verspiegelte Sonnenbrille musterte. »Hier wird nicht gespielt!«, sagte er.
Ich wollte gerade antworten, dass Herr Scherbl nie was dagegen hatte, wenn ich hier spielte – aber der Mann hörte mir nicht mal zu. »Na los!«, sagte er weiter. »Abgang! Aber schnell!« Seine Worte klangen wie drei Ohrfeigen.
Ich schluckte und ließ die Silberkette mit dem Herz-Anhänger sicherheitshalber unter meinem T-Shirt verschwinden. Das Herz hatte mir meine Mutter zum letzten Geburtstag geschenkt. Es war »ihr Herz« – das für immer mir gehörte, hatte sie damals gesagt.
»Kann ich wenigstens meinen Ball wiederhaben?«, fragte ich den Mann.
Der grinste: »Na klar!« Und damit kickte er meinen Ball auf das Dach der Schule – einfach so.
Aber kicken konnte er, das musste ich ihm lassen.
»Jetzt verzieh dich!«, sagte der Mann noch, als er zu seinem Wagen ging. Es war ein schwarzer SUV mit dem Logo eines Sicherheitsdienstes auf der Fahrertür. »Die Schule fängt im September wieder an! Bis dahin will ich dich hier nicht mehr sehen!«
Ich schaute ihm sprachlos dabei zu, wie er in den SUV stieg und davonfuhr. Ich hätte gerne gewusst, warum er meinen Ball einfach weggekickt hatte. Doch ich hätte bloß eine dumme Antwort bekommen. Erwachsene waren meiner Erfahrung nach unberechenbar. Mit Ausnahme von Herrn Scherbl vielleicht und ein paar Lehrern.
Ich versuchte mich damit zu trösten, dass der Security-Typ mir immerhin meine Kette und mein Frühstück nicht weggenommen hatte. Ich verkroch mich damit in den Schatten an den Fahrradständern. Aber ich hätte losheulen können. Meinen Ball auf dem Flachdach der Schule verschwinden zu sehen, gab mir irgendwie den Rest. Ich hatte echt ein schwieriges Jahr hinter mir. Und genau so fand Idris mich vor: wie eingesunken zwischen zwei alten Schrottkisten, die irgendjemand hier stehen gelassen hatte, weil sie sowieso nichts mehr wert waren. Beide Räder hatten platte Reifen vorne und hinten. Es waren die einzigen Fahrräder, die hier noch angekettet waren zwischen 998 freien Stellplätzen. Ich fühlte mich kraftlos und wusste nicht weiter – so als hätte mein Herz jetzt ebenfalls einen Platten.
Keine Ahnung, wie lange ich so dasaß. Nur ein paar Minuten wahrscheinlich. Aber ich wäre noch ewig so sitzen geblieben, hätte nicht plötzlich Idris’ Stimme die Leere in meinem Kopf ausgefüllt – wie ein Stromschlag:
»SAG MAL, HEULST DU, ALTER?!«
Ich wischte mir mit dem Ärmel über das Gesicht und schaute auf. Der Typ auf dem schwarzen Mountainbike vor mir war etwas kleiner, aber ungefähr so alt wie ich. Seine Haare sahen aus, als hätte er eine ganze Tube Gel hineingekleistert. Ein scharfer Strich verlief dort, wo sein betonierter Scheitel anfing, und die Seiten waren auf zwei Millimeter rasiert. Unter seiner Betonfrisur hatte Idris einen dunklen Oberlippenflaum. Dazu trug er ein enges weißes Feinrippunterhemd und eine Silberkette mit ein paar Army-Hundemarken als Anhänger um den Hals. Seine Jeans waren ungefähr zwei Nummern zu groß, mit Absicht natürlich. Darunter hatte er Boxershorts an, die zur Hälfte rausschauten, und er trug weiße Nike-Sneakers.
»Lass mich bitte in Ruhe!«, antwortete ich schwach. Ich kannte Typen wie ihn. In der Achten und Neunten liefen auch ein paar so rum wie er. Typen wie die hätte es überhaupt nicht interessiert, was mit mir los war. In der Regel suchten die nur Ärger.
Bei Idris war ich auch davon ausgegangen, dass er so drauf war. Ich hätte mich nicht krasser in einem Menschen täuschen können! Aber was hätte ich auf seine Frage antworten sollen? Etwa: Ja, ich heule – das siehst du doch! Ich habe nämlich ein richtig rotziges Jahr hinter mir – und zwar schon das dritte hintereinander!
Meine Mutter und ich waren in den letzten drei Jahren drei Mal umgezogen. Jedes Mal sollte es ein Neuanfang sein, aber jedes Mal war meine Mutter wieder an einen Typen wie Fonsi geraten.
»Lass mich in Ruhe …?«, äffte Idris mich nach. »Sorry, Mann! Ich mein, du gammelst da rum wie ein Häufchen Elend und flennst! Da wird man doch wohl noch fragen dürfen, ob alles in Ordnung ist! Aber nein …! In diesem Kaff hier halten sich ja anscheinend alle für was Besseres! Da redet man wohl nicht mit jedem, hm?!«
Ich stöhnte und rieb mir das Gesicht. Ich wollte alleine sein. Wer hat schon gerne Publikum, wenn einem die Tränen kommen? Und jetzt hatte ich auch noch diesen Kerl hier an der Backe. Als wäre die Security-Pfeife vorhin nicht schon ätzend genug gewesen!
Dabei wusste ich genau, was Idris meinte, als er über dieses Kaff hier schimpfte. Vor einem Jahr, als wir hierhergezogen waren, war es mir ähnlich gegangen. Ich hatte da mal in einer Bäckerei sächselnd ein paar Brötchen bestellt – und durfte mir dann einen ziemlich langen Vortrag darüber anhören, dass es so was in Bayern nicht gibt.
Nur weil ich redete wie ein Fremder! Warum wurde man dann angeschaut, als wäre Fremdsein etwas Schlimmes – so als wäre man selber daran schuld?
Idris wurde vielleicht nicht wegen seiner Aussprache so angeschaut. Fremd war er trotzdem hier. Ich tippte jedenfalls darauf, dass er erst vor Kurzem hergezogen war. »Okay«, sagte ich. »Du willst wissen, ob bei mir alles in Ordnung ist? Nein, natürlich nicht! Oder hast du schon mal eine Heulsuse getroffen, die dir so eine Frage breit lächelnd mit einem Keine Sorge, alles super, echt! beantwortet?«
Da musste Idris lächeln. »Nein, das stimmt … Da wärst du wirklich die erste Heulsuse«, sagte er. »Warum genau heulst du denn?«
»Weiß ich nicht, hab’s vergessen«, log ich.
»Wow … Nicht nur ’ne Heulsuse – auch noch ein Klugscheißer!«
»Willkommen in Holzkirchen!«, gab ich zurück. Dann fiel mir nichts mehr ein. Ich war einfach fertig. Doch schließlich atmete ich einmal tief durch und sagte: »Nusshörnchen?« – und hielt ihm meine Bäckereitüte hin.
Idris runzelte die Stirn. Aber dann griff er hinein und hockte sich neben mich. »Ach, warum nicht«, sagte er.
Eine Weile lang aßen wir schweigend. Dann fragte Idris: »Jetzt sag schon, was ist passiert? Bei dir ist doch gerade was schiefgelaufen!«
Ich gab mir einen Ruck und wollte schon antworten, ehrlich diesmal, aber in dem Moment sagte jemand anderes – fast frohlockend:
»Idris! Denkst du, ich räum dein Zimmer...
Erscheint lt. Verlag | 4.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-407-75937-1 / 3407759371 |
ISBN-13 | 978-3-407-75937-5 / 9783407759375 |
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