Vom Mond aus betrachtet, spielt das alles keine Rolle (eBook)
432 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-4832-2 (ISBN)
Bestsellerautorin Anne Freytag ist eine der großen und gefeierten deutschen All-Age-Stimmen
Manchmal findet man sich in den unwahrscheinlichsten Momenten ...
Eben hatte Sally noch ein Leben - eine beste Freundin, eine langjährige Beziehung und eine potenzielle WG mit ihrem Bruder. Aber dann kommt alles anders: Pia ist mit ihren Eltern weggezogen, Felix hat überraschend Schluss gemacht, und statt in die erste eigene Wohnung geht es in den zweiten harten Lockdown. Einmal mehr ist Sally eingesperrt mit ihrer Mutter und den drei Geschwistern. Und als wäre das nicht genug, zieht dann auch noch die ein paar Jahre ältere Leni bei ihnen ein. Unter anderen Umständen wären sich die beiden vermutlich nie begegnet. Doch jetzt schleicht Leni sich Stück für Stück in Sallys Gedanken und weiter in ihr Herz. Dabei hatte Sally sich so fest vorgenommen, sie nicht zu mögen ...
Lebensnahe Themen und eine bildgewaltige Sprache - verpackt in einem mit Liebe zum Detail ausgestatteten Hardcover
Anne Freytag hat International Management studiert und als Grafikdesignerin gearbeitet, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Für ihre Romane wurde die Autorin mehrfach für Literaturpreise nominiert und damit ausgezeichnet - unter anderem dem Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur. Darüber hinaus gibt es konkrete Pläne zur Verfilmung einzelner Werke. Die Autorin lebt und arbeitet in München.
Anne Freytag hat International Management studiert und als Grafikdesignerin gearbeitet, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Für ihre Romane wurde die Autorin mehrfach für Literaturpreise nominiert und damit ausgezeichnet - unter anderem dem Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur. Darüber hinaus gibt es konkrete Pläne zur Verfilmung einzelner Werke. Die Autorin lebt und arbeitet in München.
Hairy Styles?
Ich stehe frierend in der Wanne. Und dann denke ich, dass heutzutage kein Mensch mehr ein Badezimmer in so einem Schwimmbadblau fliesen würde. Schon gar nicht bis unter die Decke. Ein kompletter Raum von Kopf bis Fuß eingekachelt wie ein himmelblauer Schlachthof.
Rasierschaum läuft meine Leiste hinunter – erst die Leiste, dann die Innenseite meines Oberschenkels. Ich schaue in den Spiegel, stehe da mit dem Rasierer in der Hand. Die Haare nass, das Gesicht rot, der Blick skeptisch. Ein Wieso tust du das?, das sich endlos wiederholt. Die Antwort ist einfach, sie ist nur unangenehm. Kurz bevor Felix und ich zusammengekommen sind, hat er in einem Nebensatz erwähnt, dass er niemals mit einer Frau mit Busch ins Bett gehen würde. Kein Witz, genauso hat er es gesagt. Seitdem bin ich komplett haarlos. Abgesehen von denen auf meinem Kopf habe ich nur noch Wimpern und Augenbrauen – was völlig absurd ist, wenn man bedenkt, dass ich es früher kaum erwarten konnte, Schamhaare zu bekommen. Ich habe meinen Körper jeden Morgen unter der Dusche akribisch danach abgesucht. Und dann, als ich endlich eins gefunden hatte – ich war noch nicht ganz vierzehn –, hat sich überhaupt nichts geändert. Irgendwie hatte ich mir echt mehr davon versprochen. Als wäre so ein Schamhaar eine heimliche Eintrittskarte ins Erwachsenendasein. Wie eine Trennlinie zwischen Kind und Frau. War es aber nicht. Ich hatte einfach nur ein Schamhaar.
Ich erinnere mich noch, wie ich damals hier stand, in derselben Wanne, irgendwo zwischen euphorisch und ernüchtert, und darauf gewartet habe, mich anders zu fühlen. Darauf warte ich irgendwie bis heute – mit dem Unterschied, dass ich mir jetzt die Schamhaare wegrasiere, obwohl es juckt und ich kleine Pickel davon bekomme. Mir ist klar, dass es mittlerweile auch andere Möglichkeiten der Enthaarung gibt, aber die kommen nicht infrage, weil meine Schwester sie finden würde und ich mich dann vor ihr rechtfertigen müsste, wieso ich mich dem männlichen Diktat unterwerfe. Als wäre ich da die Einzige. Fast alle, die ich kenne, sind rasiert. Eine ganze Generation gepflegt bis in die Unterhose. Aalglatt und verlogen – und ein paar Tage später stoppelig mit dem unbändigen Drang sich zu kratzen. Und obwohl das alles so ist, und obwohl ich das weiß, und obwohl Felix Schluss gemacht hat, stehe ich trotzdem breitbeinig in der Wanne, mit gekrümmtem Rücken und angespanntem Nacken und entferne jedes noch so kleine Haar in meinem Intimbereich. Und das alles nur wegen einem Satz.
Franny ist da anders. Sie lebt nach der Prämisse love what you love and make no apologies. Ein Zitat von Tennessee Williams, das sie als Postkarte an ihre Zimmertür geklebt hat. Im Vergleich dazu bin ich ein einziger Kompromiss. Unsicherheit versteckt hinter Schlagfertigkeit und Zynismus. Zumindest war ich mal so. Jetzt schweige ich überwiegend. Laut zu sein fiel mir früher leicht – vor allem, wenn ich die richtige Meinung vertrat, wenn ich in der grölenden Masse stand und zu deren Echo wurde. Mama sagt, dass man eine Stimme sein soll und kein Echo, weil Meinungsäußerung ein Privileg ist und die eigenen Ansichten Teil von einem. Menschen, die schweigen, bewegen nichts. Die stehen nur dumm rum und klatschen für andere, sagt sie. Ich weiß, dass sie damit recht hat, aber das macht es nicht einfacher.
Die Wahrheit ist: Ich bin ein Produkt meiner Zeit. Scheinbar unangepasst, weil das alle sind, gegen Dinge, von denen ich nicht besonders viel verstehe, eingeschüchtert, aber gleichzeitig zu unabhängig und stark, als dass ich das zeigen würde. Eine Kompassnadel, die außer Kontrolle geraten ist. Nur dass es keiner mitkriegt. Wie Wut, die man in ein Kissen brüllt.
Ich inspiziere meinen Schambereich (was für ein grauenhafter Ausdruck) und dusche oberflächlich den Schaum ab, dann richte ich mich auf. Meine Zigarette ist inzwischen fast runtergebrannt. Ich nehme sie aus der Seifenschale, die wir zum Aschenbecher umfunktioniert haben – sie passt perfekt auf den Spülkasten –, im Anschluss ziehe ich ein letztes Mal an der Zigarette und werfe die Kippe danach neben mir ins Klo. Ein leises Zischen, dicht gefolgt von einer silbernen Rauchlocke, die wie ein Flaschengeist aus der Schüssel steigt. Zwischen den hellblauen Fliesen sieht die Toilette seltsam nackt aus, so als hätte man vergessen, ihr etwas anzuziehen. Genauso wie das Waschbecken. Und mein Intimbereich.
Ich mustere mich wie ein nacktes Rätsel im Spiegel. Dann tausche ich die Klingen aus, damit Charlie seinen Rasierer wieder benutzen kann, und lege ihn auf den Wannenrand. Ich darf später auf keinen Fall vergessen, ihn aufzuräumen. Sonst weiß Charlie, dass ich ihn verwendet habe.
Der Qualm steht im Bad wie in einer Kneipe. Mama findet es nicht gut, dass wir im Haus rauchen. Eine Weile hat sie noch versucht, es zu unterbinden, aber irgendwann hat sie aufgegeben. Zum einen, weil es nicht besonders glaubwürdig ist, etwas zu verbieten, was man selbst seit jeher tut, zum anderen, weil wir über achtzehn sind und daher von Gesetzes wegen sowieso rauchen dürfen.
Charlie tut es ohnehin nur gelegentlich – eigentlich bloß, wenn er Alkohol trinkt. Bier und Zigaretten gehören für ihn irgendwie zusammen. Es gibt Abende, da raucht er eine halbe Schachtel, dann rührt er wieder wochenlang keine an. Franny sagt, sie wünschte, sie könnte das – Genussrauchen. Aber bei ihr klappt es nicht. Sie will seit Jahren damit aufhören – ihren letzten Versuch hat sie vor vier Tagen gestartet –, aber bisher hat sie es nie geschafft, durchzuhalten. Ein, maximal zwei Wochen, dann knickt sie ein. Ich bin gespannt, wie lang es diesmal dauert.
Ich für meinen Teil habe erst spät mit dem Rauchen angefangen. Meine erste Zigarette hatte ich mit Felix. Man könnte sagen, er hat mich dazu angestiftet. Wobei es fairerweise nicht viel Überredungskunst gebraucht hat. (Felix hat inzwischen wieder aufgehört.) Zu meiner Verteidigung: Ich rauche nicht viel – drei, vielleicht vier Zigaretten am Tag –, und nie in Henrys Beisein.
Mama sagt, früher war es vollkommen normal, vor Kindern zu rauchen. Bevor die Leute so hysterisch wurden. (Ihre Wortwahl, nicht meine.) Vor den 2000ern war Rauchen nicht nur salonfähig, es war der Standard. In Restaurants, in Cafés, in Autos, Zügen, Flugzeugen. Überall. Da wurde nie Rücksicht genommen. Abschätziges Geräusch. In den 50ern haben sogar Schwangere getrunken und geraucht, ohne dass sich jemand darüber aufgeregt hat. Ich sage nicht, dass das richtig ist. Ich sage nur, dass es so war. Und jetzt bist du als Raucher der letzte Abschaum.
Kann sein, dass sie recht hat – ich rauche trotzdem nicht vor Henry. Schließlich kann der nichts dafür, dass wir Idioten sind. Manchmal glaube ich, er ist der Einzige in diesem Haus, auf den das nicht zutrifft. Weil er nicht versucht, jemand zu sein, der er nicht ist. Henry wird nicht anders, wenn andere da sind. Er bleibt einfach er selbst. (Etwas, das ich im Laufe der Jahre verlernt habe.)
Ich greife nach der Handbrause und dusche mich gründlich ab, beuge mich vorn über, entferne letzte Rasiergelreste zwischen meinen Beinen. Dabei bröckelt ein Teil meiner Gesichtsmaske ins gräuliche Badewasser. Ziemlich ekelhaft das alles. Schaum, kleine Härchen, Shampooschlieren.
Im selben Moment versucht jemand, die Tür zum Badezimmer zu öffnen. Die Klinke wird runtergedrückt, aber es ist abgesperrt.
»Sally? Bist du etwa immer noch da drin?«
Charlie.
Er klingt genervt. (Wäre ich an seiner Stelle auch.)
Meine Geschwister und ich teilen uns das Bad. Ein Bad für vier Menschen. Da ist Ärger vorprogrammiert.
»Es sind jetzt schon fast eineinhalb Stunden«, sagt er. »Wofür zum Teufel brauchst du so lang?«
Ich antworte nicht. Charlie und ich stehen uns nah, aber nicht so nah.
»Komm endlich da raus, ich muss duschen.«
»Ich hab noch ’ne Gesichtsmaske drauf«, erwidere ich durch die geschlossene Tür und höre, wie Charlie lacht. Es ist ein unterdrückter Laut, als wollte er nicht, dass ich es mitkriege.
»Scheiße, Sally«, sagt er dann.
Wenn ich lang genug warte, wird er aufgeben. Ich darf nur nicht reagieren, das ist der Trick. Ein paar Sekunden der Stille ertragen. Mehr braucht es nicht. Ich stehe nackt im Badewasser und zähle bis fünf, dann seufzt Charlie resigniert: »Na gut. Dusch ich halt morgen.« Kurz darauf entfernen sich seine Schritte – Fersen, die in den Boden gerammt werden, als wollte er so seinen Ärger akustisch verdeutlichen.
Ich rufe ihm ein »Danke, Charlie!« hinterher, doch da fällt bereits seine Zimmertür ins Schloss. Keine Ahnung, ob er es noch gehört hat.
So etwas wie das eben passiert dauernd – jemand will ins Bad und kann nicht rein. Das Absurde an der Situation ist, dass wir eigentlich zwei Bäder haben: das blaue und das rosa Bad. Letzteres gehört Mama. Sie hat es vor Jahren annektiert. Ich teile alles mit euch – ich habe sogar meinen Körper mit euch geteilt –, aber nicht das Bad. Das ist der einzige Ort in diesem gottverdammten Haus, an dem ich meine Ruhe vor euch habe. Was nicht ganz stimmt. Sie hat ihr Schlafzimmer, den Wintergarten und ein Arbeitszimmer (wobei das keine Tür hat, also zählt das vielleicht doch nicht). Rein objektiv betrachtet hat Mama trotzdem mehr als genug Raum für sich. Aber vielleicht ist das wie bei reichen Leuten, die denken auch nicht, dass sie reich sind.
Das rosa Bad ist...
Erscheint lt. Verlag | 29.9.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Aktion Kulturpass • All Age • Badewanne • Beziehungsgeschichten • Bücher ab 14 Jahren • Coming of Age • Corona • Emanzipation • enemies to lovers • Familienkonflikte • female/female • forced proximity • Haters to Friends to Lovers • Herzklopfen • Junge Erwachsene • kulturpass • lgbtqia+ • lockdown • Mental Health • Patchworkfamilie • Queer • Selbstfindung • Slow Burn |
ISBN-10 | 3-7517-4832-6 / 3751748326 |
ISBN-13 | 978-3-7517-4832-2 / 9783751748322 |
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Größe: 4,2 MB
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