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Tamara (eBook)

Zwischen Knast und Pferdestall
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
156 Seiten
tolino media (Verlag)
978-3-7546-1554-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tamara -  Mirjam-Sophie Freigang
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'Ich habe sein Blut an meinen Händen. Ich habe ihn krankenhausreif geschlagen.' Tamaras Haare leuchten wie das Blaulicht auf einem Streifenwagen. Ihr Wunsch, aus der Masse herauszustechen, macht sie zur ungeliebten Außenseiterin - bis sie sich zur Wehr setzt und vor dem Jugendrichter landet. Doch anstatt sie in den Knast zu stecken, schickt er sie in die norddeutsche Einöde auf den Pferdehof ihres Onkels. Dort schwört sie sich, ihren Aufpassern das Leben zur Hölle zu machen. Noch ahnt Tamara nicht, dass nicht nur ihre Verwandten ihr Leben auf den Kopf stellen werden. Als der Pferdestall in Flammen steht, gerät Tamara erneut ins Fadenkreuz. Holen ihre Sünden der Vergangenheit sie letztlich doch ein? Eine Geschichte über Annahme, Akzeptanz und die Kraft der Vergebung.

Aufgewachsen in ihrer eigenen Fantasiewelt gehörte das Geschichtenerzählen seit der Grundschule zu Mirjams Leben. Damals waren Disneyhelden ihre Inspiration, heute sind es reale Menschen und die Begegnungen mit ihnen. Reale Menschen, die ihre Andersartigkeit entdecken und feiern lernen.

Aufgewachsen in ihrer eigenen Fantasiewelt gehörte das Geschichtenerzählen seit der Grundschule zu Mirjams Leben. Damals waren Disneyhelden ihre Inspiration, heute sind es reale Menschen und die Begegnungen mit ihnen. Reale Menschen, die ihre Andersartigkeit entdecken und feiern lernen.

1. Weit weg

 

Die Landschaft zog an Tamara vorbei und verschwamm vor ihren Augen zu einem grünen Einheitsbrei. Je weiter sie sich von Erfurt entfernte, desto enger schnürte sich ihre Kehle zu. Der Zug fuhr sie aus dem Thüringer Becken mit seinen aneinandergereihten Orten hinaus, hinein in eine offene Landschaft. Bis Tamara nur noch von der Eintönigkeit brauner, gelber und grüner Äcker umgeben war.

Als sie den Plattenbau, in dem sie mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder Tim wohnte, verlassen hatte, hatte sie noch nicht geahnt, in was für ein Gefängnis sie sich begeben würde. Nein, es war nicht diese Art von Gefängnis, das sie hinter dicke Eisenstäbe sperrte und in das die Sonne vielleicht nur einen Mitleidsstrahl durch ein kleines Fenster warf. Dieses Gefängnis hier war weit – eine Ackerwüste mitten in Norddeutschland. Hier hatte die Junisonne kein Mitleid, sie strahlte erbarmungslos auf die Erde herab. Und von Frischluft gab es auch viel zu viel.

Auf der Zugfahrt vom Erfurter Hauptbahnhof zum Zwischenstopp in Berlin versuchte Tamara, die Gedanken an die letzten Tage in trommelfellbetäubender Musik aufzulösen. Denn an Alkohol kam sie seit dem Richterbeschluss nicht mehr heran, da sie Hausarrest erhalten hatte. Jetzt saß ihre Sozialarbeiterin Frau Hertel so dicht neben ihr, dass sie sich gleich auf ihren Schoß hätte setzen können. Genervt schob sich Tamara von ihr weg, als diese sie ermahnte, die Lautstärke herunterzudrehen. „Ich kann trotz deiner Kopfhörer mithören“, hatte sie mit ihren Lippen geformt. Doch das ließ Tamara kalt. Stattdessen rutschte sie ebenso tief in ihren Sitz, wie sie sich ihre Kapuze ins Gesicht zog.

Nach knapp zwei Stunden kam sie mit Frau Hertel in Berlin an, wo sie von einer umher hetzenden Menschenmasse fortgerissen wurden, kaum dass ihre Füße den Bahnsteig berührt hatten. Touristen, Businessleute, Bettler, Tramper, Feierwütige – der Haufen war so bunt, dass Tamara mutig die Kapuze vom Kopf zog. Das strahlende Blau ihrer Haare fiel unter den pinken Punkfrisuren, Dreadlocks, rasierten Köpfen, bunten Hüten und Kopftüchern überhaupt nicht auf. Auch ihre abgetragene Kapuzenjacke und die zerschlissenen Shorts, die ihre bullige Statur umspielten, fügten sich unauffällig in die Masse ein. Warum hatten sie sie nicht hierher nach Berlin verbannt? Die Entfernung zu ihrer hinterhältigen Möchtegern-Mutter reichte doch allemal. Warum also bis ins Nirgendwo von Mecklenburg-Vorpommern?

In der Deckung eines Pfeilers blieb Tamara stehen, kramte in ihrer Jackentasche und holte Zigarettenschachtel und Feuerzeug heraus. Der erste Nikotinzug war immer der beste. Sie schloss die Augen und spürte, wie das betäubende Gift durch ihre Lunge und dann durch ihre Adern kroch. Es dauerte nicht lange, dann beruhigte sich ihr Herzschlag. Der Gedanke an ihren Zielort machte sie ungewohnt nervös. Davon durfte sie sich allerdings nichts anmerken lassen; die Mauer um sie herum durfte nicht ins Bröseln geraten. Noch nie hatte sie Erfurt verlassen. Dieses Drecksloch von Stadt. Noch nie hatte sie in einem anderen Gebäude als diesem Plattenbau gelebt. Sie kannte nur dieses Hochhaus, wo Arbeiter, Hartz-IV-Empfänger, junge Leute mit wenig Geld oder alleinerziehende Mütter lebten – Frauen ohne Mann, aber mit kleinen, nervigen Anhängseln, die ihnen die Haare vom Kopf fraßen. Eine von diesen armseligen Frauen mit Anhängseln war Elke, Tamaras Mutter. Tamara glaubte schon nicht mehr daran, dass Elke auch nur einen Funken von Sympathie für ihre Tochter übrighatte. Tamara war ihr lästig. Genauso, wie Elke Tamara lästig war.

Und jetzt schickte sie sie ins norddeutsche Nirwana. Wahrscheinlich hatte Elke gedacht, sie würde ihrer Tochter damit einen Gefallen tun, wenn sie sie nicht gleich in den Knast sperrte. Das sah Tamara allerdings anders. Sie hatte sich ihren Aufenthaltsort für die nächsten acht Wochen auf Google Maps angeschaut. Vor Schreck hatte sie sich fast an ihrem Zigarettenqualm verschluckt. Der Hof lag im Kaff der Käffer, umgeben von Wiesen und Äckern. Weit und breit kein Supermarkt, keine Kneipe, noch nicht einmal ein Kiosk! Hätte sie vor der Unterschrift ihrer Mutter gewusst, wohin sie geschickt wurde, hätte sie freiwillig die Knastzelle vorgezogen.

Plötzlich zerrte eine Hand an Tamaras Ärmel und riss sie gewaltsam aus ihren Gedanken zurück in die Gegenwart.

„Tamara, jetzt komm schon“, schob sich die energische Stimme Frau Hertels in den Umgebungslärm. „Wir verpassen sonst unseren Anschlusszug.“

„Fass mich nicht an!“, zischte Tamara und entwand sich dem zerrenden Griff der Sozialarbeiterin. „Wäre ja nicht so schlimm, wenn wir das Drecksding verpassen würden.“

Frau Hertel presste die Lippen zusammen, während Tamara genüsslich die letzten Züge ihrer Zigarette ausstieß, um anschließend die Fluppe unter den stehenden Zug zu schnippen.

„Also ich wäre soweit. Worauf wartest du noch?“, provozierte Tamara ihre Aufpasserin und setzte sich mit forschen Schritten in Bewegung. Frau Hertel drehte ihren Rollkoffer umständlich um und hastete hinter ihrem Pflegefall her.

„Wir wären sicherlich längst am anderen Gleis, wenn du nicht diese bescheuerten Tussi-Schuhe anhättest“, stichelte Tamara über ihre Schulter hinweg. Sie wollte noch etwas nachsetzen, aber da prallte sie unerwartet gegen einen Widerstand. Gerade noch rechtzeitig konnte sie einen Ausfallschritt machen und sich an Frau Hertel abfangen, bevor das Gewicht ihres Rucksacks sie zu Boden geworfen hätte.

„Was zum …“, entfuhr es Tamara. Sie drehte sich um und schaute in die zwei weit aufgerissenen Augen eines jungen Mannes. Er hielt seinen Kaffeebecher schützend von sich weg. Anscheinend war etwas Flüssigkeit beim Zusammenprall aus dem Becher über sein Jackett geschwappt.

Tamara stieß sich wütend von ihrer Sozialarbeiterin ab und zerrte heftig ihren Rucksack zurecht. Dann richtete sie sich auf und straffte die Brust – für alles bereit. „Was glotzt du denn so doof?“

„Verzeihen Sie“, schob sich Frau Hertel dazwischen. „Das war absolut keine Absicht. Wir sind ganz schön in Eile und müssen jetzt auch wirklich weiter. Komm, Tammy.“

Mit einem aufgesetzten Lächeln nickte die Sozialarbeiterin dem Mann zu, bevor sie Tamara weiterzuziehen versuchte. Die stemmte sich mit vollem Gewicht gegen Frau Hertels krallende Hand.

„Nenn mich nicht Tammy! Und was soll der Scheiß? Er hat sich zu entschuldigen. Immerhin stand er mir im Weg.“

„Wie bitte?“ Verdutzt zog der Mann beide Augenbrauen nach oben. „Du bist in mich reingelaufen.“

„Wollen wir das vielleicht auf anderem Weg klären?“ Tamara trat einen Schritt näher an ihn heran, schob die Ärmel bis zu den Ellbogen und stellte sich auf die Zehenspitzen. Zornig funkelte sie ihn an, während er ihrer Provokation standhielt. Er nahm nur seinen Kopf ein Stück zurück, sodass sich unter seinem Kinn ein zweites abbildete. Seine Mundwinkel zuckten kaum merklich, was Tamara sofort als Anmaßung interpretierte. Sie glaubte, in seinem Ausdruck so etwas wie Spott zu erkennen, vielleicht sogar Ekel. Egal, was es genau war, es brachte ihr Blut in Wallung. Dieser missbilligende Blick hatte sie schon oft zur Weißglut getrieben. Bis schließlich vor anderthalb Monaten ein weiteres, männliches Exemplar das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Dafür war sie vor Gericht gelandet und nun auf dem Weg ins Nirgendwo.

„Es reicht jetzt!“ Frau Hertel packte ihren Pflegefall und bohrte ihre Fingernägel in Tamaras Oberarmmuskel. Tamaras Gesicht verzog sich zu einer noch angespannteren Miene. Dann kam Frau Hertel dicht an Tamaras Ohr heran und senkte die Stimme. „Wenn du nicht sofort mitkommst, werde ich beim Jugendgericht anrufen.“

Diese Drohung genügte, damit Tamara sich widerwillig zurück auf den Boden gleiten ließ und Anstalten machte, ihrer Sozialarbeiterin zu folgen. Beim Vorbeigehen beförderte sie den Pappbecher des Fremden mit Schwung zu Boden, sodass der restliche Kaffee über seine Hosen und schwarzen Lackschuhe spritzte. „Ey, geht’s noch?“

Mit einem triumphierenden Grinsen auf den Lippen verschwand Tamara schließlich im Menschenstrom.

 

Vom Rostocker Hauptbahnhof waren es mit dem Taxi nur noch knapp fünfundvierzig Minuten. Als sie die Stadt hinter sich ließen, stieg Tamaras Unwohlsein ins Unerträgliche. Nervös fummelte sie an der Kordel ihrer Kapuzenjacke. Am liebsten hätte sie die Autotür geöffnet und sich vor einen entgegenkommenden Traktor geworfen. In dieser Weite, in dieser schrecklich offenen Landschaft hatten ihre Gedanken und Gefühle ausreichend Platz, sich frei zu entfalten. Hier draußen hatte Tamara noch weniger Kontrolle über ihre Emotionen als in der Enge der Großstadt, wo die Hochhäuser ihre Gedanken am Boden festgekettet hatten. Hier draußen, befürchtete sie, würden ihre Gedanken das Fliegen lernen und sie wie eine Drohne von oben betrachten. Das würde Tamara die Möglichkeit geben, ein klares Bild von sich selbst zu gewinnen – was sie absolut nicht wollte. Tamara war sich sicher, dass diese Ackerwüste ihre ganz persönliche Folterkammer werden würde. Hier konnte sie sich ja nicht einmal billigen Fusel besorgen, um die Stimmen in ihrem Kopf abzuwürgen. Sie musste also versuchen, die negativen Gedanken von ihrer eigenen Person abzulenken.

Mit einem lauten Seufzer ließ sie ihren Kopf gegen die Rückbank des Taxis fallen. Da spürte sie den musternden Blick ihrer Aufpasserin Frau Hertel auf sich ruhen.

„Du hättest es schlimmer treffen können“, sagte sie mit emporgerecktem Kinn. „Du kannst von Glück, nein, von Bewahrung reden, dass du für zwei Monate zu deinem Onkel auf den Hof geschickt wirst, anstatt ins Gefängnis...

Erscheint lt. Verlag 15.11.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Bilderbücher
Schlagworte Außenseiter • Freundschaft • Jugendbuch • Kinderbuch • Pferde • Vergebung
ISBN-10 3-7546-1554-8 / 3754615548
ISBN-13 978-3-7546-1554-6 / 9783754615546
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