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Bird Girl - Wie mein Glück fliegen lernte (eBook)

eBook Download: EPUB
2021
256 Seiten
cbj (Verlag)
978-3-641-24478-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bird Girl - Wie mein Glück fliegen lernte - Sandy Stark-McGinnis
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Als ich mich auf den nächsten Ast ziehe, beginnt mein Herz schnell zu schlagen. Vögel brauchen einen schnellen Herzschlag. Der hilft, Sauerstoff durch ihre Körper zu transportieren. Sauerstoff - und zwar ganz viel - benötigen sie zum Fliegen.
Dezember weiß alles über Vögel, aber auch darüber, wie man aus Pflegefamilien fliegt. Seit ihre Mutter sie verlassen hat, ist sie schon so oft umgezogen, dass sie aufgehört hat, die Familien zu zählen. Und immer musste sie dabei ihr Geheimnis wahren: Auf dem Rücken, zwischen den Schulterblättern, hat sie eine Narbe, unter der ihre Flügel versteckt sind. Sie wartet auf den Tag, an dem sie zum Vogel wird, sie ihre Flügel ausbreiten kann, um davonzufliegen - nach Hause. Denn sie ist das »Bird Girl«, das starke und unverwundbare Vogelmädchen.

Aber dann bekommt Dezember eine ganz besondere Pflegemutter: Eleanor. Sie arbeitet in einer Wildtier-Auffangstation und teilt mit Dezember die Liebe zu Vögeln. Sie übergibt Dezember die Verantwortung für Henrietta, einen verletzten Rotschwanzbussard. Und während Dezember versucht, Henriettas Vertrauen zu gewinnen, schöpft auch sie zum ersten Mal seit langer Zeit leise Hoffnung. Kann es sein, dass es für sie vielleicht doch einen Ort gibt, an den sie gehört? Ein sicheres und warmes Nest, das sie nicht sofort wieder verlassen muss?

Sandy Stark-McGinnis ist Autorin und Dichterin. Nach ihrem Abschluss in Creative Writing an der San Francisco State University, wurden ihre preisgekrönten Gedichte in verschiedenen Zeitschriften publiziert. »Bird Girl« ist ihr Debüt als Kinderbuchautorin. Sandy Stark-McGinnis lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Kalifornien, wo sie als Lehrerin arbeitet.

2

Ich weiß schon, wie die erste Frage von Dr. S lauten wird. Die mit Warum mag sie am liebsten:

»Warum hast du immer wieder Blätter in den Garten gekippt?«

»Warum hast du deiner Lehrerin nicht erzählt, dass der Junge dem Mädchen ein Bein gestellt hat?«

Und dieses Mal: »Warum bist du vom Baum gesprungen?«

Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie die Antworten auf diese Fragen schon kennt, bevor sie sie stellt, aber sie will gern meine Sicht der Dinge hören. In ihrem Job geht es vor allem darum, Leute zum Reden zu bringen.

»Ich bin nicht gesprungen. Ich bin abgerutscht und gefallen.«

»Karen hat gesagt, du wärst gesprungen. Du hättest auf dem Ast balanciert und dich dann abgestoßen.«

»Also, da irrt sie sich. Ich hab bloß da oben gestanden. Vielleicht hat das für sie so ausgesehen. Karen macht öfters aus einer Mücke einen Elefanten. Dr. S, ich will nicht von Bäumen springen, ich will auf sie draufklettern.« Das ist die halbe Wahrheit. »Wissen Sie, manche Kinder spielen gern mit Lego oder mit Puppen. Und ich klettere eben gern auf Bäume. Das ist doch nicht so komisch, oder?«

»Warum willst du von Bäumen springen?« Sie stellt dieselbe Frage noch mal anders. Heute trägt Dr. S Lila. In Lila steckt Blau, aber trotzdem lasse ich mich nicht dazu verführen, ihr meine absolute Wahrheit zu sagen. Vielleicht komme ich nah heran an die Wahrheit, damit sie mir diese Frage nicht noch mal stellt.

Die Geschichte über meine Flügel muss ein Geheimnis bleiben. Ich bin erst elf, aber ich weiß eine Menge über die Welt. Genug, um Leuten mein Geheimnis nicht anzuvertrauen. Würden sie meine Flügel jemals sehen, würden sie mich für verrückt halten.

Ich weiß auch, dass ich besser nicht allzu viel mit Dr. S rede. Ich könnte etwas sagen, das ich lieber für mich behalten sollte oder das sie gegen mich verwenden könnte. Aber noch schlimmer wäre es, gar nichts zu sagen und den Eindruck zu erwecken, ich würde etwas verbergen. Mit Dr. S zu reden ist wie auf einem Ast balancieren. Was für ein Glück, dass ich von Natur aus die Fähigkeit habe, das Gleichgewicht zu halten.

»Ich hab in einem Buch gelesen, dass Amelia Earhart als Kind immer auf Bäume geklettert ist«, sage ich.

»Das wusste ich nicht.«

»Das hat mir an ihr besonders gefallen, also hab ich es mir gemerkt.«

»Ich habe gelesen, dass sie mal eine Achterbahn gebaut hat.«

Dr. S hat jede Menge Diplome an der Wand hängen, um zu zeigen, wie schlau sie ist, aber über Amelia Earhart weiß sie Bescheid, weil sie Dinge finden muss, zu denen ich eine Beziehung habe. Wenn sie über was redet, das ich mag, höre ich besser zu.

»In einem Buch steht, sie habe das Gefühl gehabt zu fliegen, wenn sie damit gefahren ist. Hast du das Gefühl, du fliegst, wenn du von Bäumen springst?«

»Nein, denn ich fliege ja nicht. Ich falle, so wie alle anderen es auch tun würden.«

»Würdest du gern fliegen?«

»In einem Flugzeug? Eines Tages schon.«

»Wo würdest du hinfliegen?«

Ich würde an einen Ort fliegen, an dem ich schwer zu finden wäre.

»In die Antarktis.«

»Warum die Antarktis?«

Wir sind wieder bei einer Warum-Frage.

»Das ist der kälteste Kontinent auf der Erde. Da sind noch nicht viele Menschen gewesen, aber hauptsächlich würde ich gern einen Ort sehen, an dem nicht so enorm viele Tiere und Pflanzen zu Hause sind.«

»Interessant«, sagt Dr. S. »Ich weiß nicht, ob ich in die Antarktis reisen möchte. Ich hab es viel zu gern warm und sechs Monate im Jahr scheint dort die Sonne nicht.«

»Dann reisen sie doch in den sechs Monaten hin, in denen die Sonne scheint.«

Dr. S nickt. »Stimmt. Aber kommen wir wieder zurück zu dir und der Sache mit dem Springen.«

»Ich bin nicht gesprungen. Ich bin ausgerutscht.« Ich bleibe bei meiner Geschichte.

»Okay, sagen wir mal, da ist jemand, ein Freund oder eine Freundin, der gern von Bäumen springt. Wenn dieser Jemand oft genug springt, hältst du es dann für möglich, dass er sich dabei wehtut?«

Das ist eine Fangfrage, denn die Antwort ist klar, aber Dr. S will herausfinden, wie ich das echte Leben sehe.

»Ja, es ist ziemlich wahrscheinlich, dass das passiert.«

Dr. S schweigt. Sie beugt sich vor, die Ellenbogen auf ihre Knie gestützt. Sie sieht aus wie ein Vogel, der seine Beute betrachtet. Sie denkt angestrengt darüber nach, was sie als Nächstes sagen könnte, und legt sich Fragen zurecht, die dazu führen sollen, dass ich das erzähle, was sie von mir wissen will, bevor unsere Zeit um ist. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass sie sich jetzt wahrscheinlich gleich nach Freundschaften erkundigen wird. Ob ich Freunde habe oder nicht – was der Fall ist –, beschäftigt sie immer.

»Wenn du Freunde hättest, wie würden die sich verhalten?«

Ich hatte recht. »Na ja, ich glaube, sie wären ein bisschen so wie ich«, sage ich. »Wissen Sie, Dr. S, Sie müssen sich um mich und diese Sache mit den Freunden keine Sorgen machen. Dass ich keine habe, liegt hauptsächlich daran, dass ich nie lange genug an einem Ort bleibe.«

Und was hat es außerdem für einen Sinn, Freunde zu haben, wenn ich eines Tages sowieso davonfliege?

Dr. S faltet die Hände. Das bedeutet, welche Frage sie mir jetzt auch immer stellt, auf die Antwort wird sie ewig warten. »Okay, reden wir mal über Zuhause. Wenn du dir aussuchen könntest, wo du leben willst, wie würde es da aussehen? Wie würde es sich anfühlen? Kannst du das beschreiben?«

Mein Haus wäre weich und warm. Es wäre aus Pflanzenfasern, Moosen und Spinnenweben, wie das Nest eines Kolibris. Abends wäre jemand da, der mich unter Federn bettet, und wenn ich einschlafen würde, wäre dieser Mensch morgens immer noch da.

Dieser Mensch wäre aber nicht meine Mutter. Ich hab früher bei ihr gewohnt und es gab mal eine Zeit, in der sie sich um mich gekümmert hat. Sie hieß Samantha Lee Morgan. Das einzige Foto, das ich von ihr habe, ist ihr Kindergartenbild. Sie sieht aus wie ein Junge. Ihre Haare sind mit zu viel Gel zurückgekämmt und sie hat keine Vorderzähne, aber sie lächelt trotzdem. Sie beugt sich vor und dreht ihr Gesicht zur Seite, nur ein kleines bisschen, so als wollte sie weglaufen.

Sie hat ein Muskelshirt an und auf ihrer Schulter ist eine Tätowierung, ein schwarzer Vogel. Ich möchte gern glauben, dass mein Schicksal schon auf ihre Haut geschrieben stand, als sie fünf Jahre alt war, so als wäre meine Mutter mit dem Tattoo geboren worden. Oder dass ein Vogel mit Krallen voll Tinte auf die Kinderstation geflogen kam, als sie ein Baby war. Aber die Tätowierung war nur ein Abziehbild. Vielleicht aus einem dieser roten Automaten, die neben der Tür vom Supermarkt stehen. Wahrscheinlich hatte meine Mom etwas aus dem Automaten haben wollen und ihre Mom hatte ihr fünfzig Cent versprochen, wenn sie artig ist.

Ich sehe meiner Mom sehr ähnlich.

»Eine gute Pflegestelle würde …«, beginne ich.

»Es muss keine Pflegestelle sein. Es ist dein Traumhaus.« Dr S streckt die Arme zur Seite aus, so als würde sie mir die Flügelspanne eines Albatros zeigen wollen. »Stell dir was Großes vor.«

Wenn ich mir was Großes vorstelle, dann würde ich irgendwo leben, wo ich das Gefühl habe hinzugehören.

»Ich glaube, mein Zuhause wäre dann an einem Ort, wo ich ganz lange bleiben könnte. Keiner würde rumschreien. Man würde mich freundlich behandeln und nicht so eine Riesensache um das machen, was ich essen möchte. Und keiner würde mich am Ende irgendwo zurücklassen.«

Dr. S legt ihren Stift hin, was bedeutet, dass unsere Zeit um ist. »Das ist nicht zu viel verlangt.«

Bisher hat das Leben mich gelehrt, dass es das doch ist, aber ich sage trotzdem »Nein«, denn Dr. S hat recht. Zu viel verlangt ist das wohl nicht.

»Noch eines zum Schluss.« Dr. S reicht mir eine Tüte Sonnenblumenkerne. »Für dich.«

Ich drücke die Tüte an meinen Bauch.

Dr. S beendet unsere Sitzung mit derselben Frage wie immer. »Möchtest du mir heute irgendwas aus deinem Buch vortragen?«

»Klar.« Mein Rucksack steht auf dem Boden. Ich mache den Reißverschluss auf und lasse die Hand hineingleiten. Ich will nicht aus Versehen Bird Girl rausholen. Das Buch ist zwar in ein Sweatshirt gewickelt, aber es könnte trotzdem rausrutschen, und dann würde Dr. S es sehen.

Bird Girl werde ich ihr niemals vorlesen. Ich werde es niemals irgendwem vorlesen. Es könnte gegen mich verwendet werden, als Beweis dafür, dass ich weggesperrt werden sollte. Dann würde ich nie zum Fliegen kommen.

Aber ich werde ihr aus Das vollständige Handbuch der Vogelkunde: Band I vortragen. Das war ein Geschenk von meiner Mom.

Auf der Innenseite des Einbands steht eine kurze Widmung, die lautet: »Für Dezember. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Alles Liebe, Mom.« Und darunter steht: »P.S.: Im Flug wirst du mich finden.«

Ich schiebe das Handbuch über den Tisch zu Dr. S und sie schlägt eine x-beliebige Seite auf. »Dreihundertvierundsechzig«, sagt sie.

Ich habe so gut wie alle Informationen, die in dem Buch stehen, auswendig gelernt. Wenn ich Band II hätte, würde ich den auch auswendig lernen.

»Der Tagschläfer. Tagschläfer sind auch bekannt als Geistervögel. Sie sind nachtaktiv. Sie ernähren sich von Insekten und kleinen Tieren wie...

Erscheint lt. Verlag 21.6.2021
Illustrationen Maria Over
Übersetzer Catrin Frischer
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Extraordinary Birds
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Kinderbücher bis 11 Jahre
Schlagworte ab 10 • Angst • Angststörung • Coming of Age • Depressionen überwinden • eBooks • emotionales Kinderbuch • Glück • Hoffnung • Kinderbuch • Kinderbücher • Mut • Pflegefamilie • Selbstbewusstsein • Selbstwertgefühl • starkes Mädchen • Suche nach sich Selbst • Trennung • Zuhause
ISBN-10 3-641-24478-1 / 3641244781
ISBN-13 978-3-641-24478-1 / 9783641244781
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