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Wortwechsel (eBook)

Zehn philosophische Dialoge
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
234 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4084-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wortwechsel -  Andreas Dorschel
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Dieses Buch enthält zehn fiktive Gespräche, in denen maßgebliche Begriffe der Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik wie Denken, Charakter oder Schönheit dialogisch entwickelt werden. Andreas Dorschel entwirft zudem in knapper Form eine Philosophie des philosophischen Dialogs. Form und Genre sind in der Philosophie den Gedanken nicht äußerlich und kleiden sie nicht lediglich ein, sondern eröffnen je eigene Erkenntnismöglichkeiten. In der Philosophie der Gegenwart bleiben jedoch die Möglichkeiten, die das Genre Dialog eröffnet, weitgehend ungenutzt. Jeder der Dialoge in diesem Buch spielt in einer historischen Situation der Neuzeit, vom 16. bis zum frühen 21. Jahrhundert, und an einem bestimmten Ort, von Walden, Massachusetts, bis Wien, von Florenz bis zur Halbinsel Wittow auf Rügen. Es begegnen sich etwa Mary Wollstonecraft und der Graf von Schlabrendorf während der französischen Revolution, Naphta und Settembrini in Wien, Emil Jannings und Natalia Sedowa in Erfurt. Die Dialoge werden zu Wortwechseln nicht nur in dem Sinne, dass die Rede zwischen mehreren Personen wechselt, sondern auch insofern, als die Worte selbst sich umfärben, ihre Bedeutung in Fluss gerät. Das Gespräch entzieht die Begriffe, um die es geht, dem abstrakten Raum reiner Theorie.

Andreas Dorschel lehrt seit 2002 an der Kunstuniversität Graz. Er war Visiting Professor in Stanford (2006) und Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin (2020/21). 2014 erhielt er den Caroline-Schlegel-Preis. Er ist Autor von sechs Monographien; Aufsätze Andreas Dorschels erschienen unter anderem in The Cambridge Quarterly (OUP), Philosophy (CUP), The Oxford Handbook of the New Cultural History of Music (OUP) und The Oxford Handbook of Western Music and Philosophy (OUP).

LIVRE DE PRUDENCE


Gespräch in Padua


Auf den friedliebenden Trojanerkönig Antenor, der etwa zwölfhundert Jahre vor der gemeinen Zeitrechnung lebte, führt die Stadt Padua ihren Ursprung zurück. Sie hat freilich wenig Trojanisches an sich. Doch einem Ursprung sollte man, wie das Wort selbst sagt, Sprunghaftigkeit nachsehen. Paduas Entspringen muß nicht logisch, stetig, folgerichtig gewesen sein wie das Denken in der großen Universitätsstadt. Unter ihren Denkern ragte einst Sperone Speroni hervor, geschätzt ob seiner Rede, die mit erstaunlicher Virtuosität durch alle Register lief. Die Accademia degli Infiammati zu Padua ehrte Speroni; die Sancta Inquisitio zu Rom übergab seine Dialoge den Flammen. Letzteres ehrte ihn erst recht. Seine eigene Leidenschaft war entflammbar durch Schwieriges. Sie galt, wie er in einem Brief sagte, dem, was zu verstehen ihn Mühe kostete, den gelehrten Büchern und den Frauen. Er war keiner jener Männer, denen man nachsagt, sie dächten nur an das eine; Speroni dachte auch an das andere, das Denken selbst. Da die Kurtisanen der Renaissance, sofern sie auf sich hielten, belesen waren, gelang es ihm zuweilen, seine beiden Leidenschaften zu verbinden. So geschah es auch eines schönen Frühsommertags – es war um das Fest des Sant’Antonio di Padova herum – bei Speronis Zusammentreffen mit Chiara da Camposampiero, Lucia degli Obizzi und Tullia da Peraga im Innenhof des Palazzo Bò. Von dessen oberer Loggia her war eines der neumodischen Gravicembali zu hören; jemand spielte darauf einen munteren Saltarello. Eine Saite des Instruments mußte gerissen sein, denn immer, wenn eine bestimmte Stelle kam, entstand ein Loch in der Melodie.

TULLIA: So steht es um die Lustigkeit der Scholaren. Lachen sie, dann starren einem ihre Zahnlücken entgegen. Sie starren aus ihren Mäulern und aus ihren Witzen. Selbst ihre Tanzweisen sind, wie ich eben vernehme, perforiert.

SPERONE: Und doch, die Universität! Republik der Gelehrten …

CHIARA: Wirklich, sie sind eines Geistes, die Universität und die Republik. Jene verbannt die Frauen aus ihren Hörsälen, diese aus ihren Ratsstuben.

SPERONE: Falls Ihr Euch nach der Monarchie sehnt, tut es flüsternd! Für die Serenissima lauern auch in Padua allerorten Spione.

CHIARA: Sperone, pardon, Messer Speroni, seid Ihr vielleicht auch einer von ihnen?

SPERONE: Agent der Republik bin ich keiner, wenngleich mir Eure weibliche Vorliebe für die Monarchie schlecht begründet vorkommt. Bedenkt, daß auch der Kaiser des heiligen römischen Reiches noch nie eine Frau war.

TULLIA : Weil man ihn wählt. Selbst das ist noch zu republikanisch. Oft regieren Frauen in der rechten Monarchie, der hereditären. Denkt an Eleonore von Aquitanien, Margarethe von Dänemark, Isabella von Kastilien. In wahrer Alleinherrschaft erbt das Blut sich fort, also die Natur, und nur diese, selbst ein Weib, meint es gut mit ihrem Geschlecht.

SPERONE: Sofern man gut nennen möchte, was einen vom Guten abbringt.

TULLIA : Was meint Ihr?

SPERONE: Ach, nichts. Ich gebe mich geschlagen, soweit es die Führung der Staaten betrifft. Doch daß Euch die Universität ihre Hörsäle versperrt, solltet Ihr leichter verschmerzen. Ich überließe Euch ungern dem betreuten Denken der sogenannten Hohen Schule. Sie ist in Wahrheit eine niedrige, kleine, enge Welt, unwürdig solch berühmter und berüchtigter Damen, wie Ihr es seid. Selbst Berüchtigtsein ist ja ein zu großes Ding, als daß Gelehrte es je erreichten. Allenfalls eine Accademia della Fama könnte Euch …

CHIARA (unterbrechend): Infamia! Kaum besitzt ein Mann ein Vorrecht, schon sucht er es als wenig wünschenswert hinzustellen, ja verlästert es. Vor einer Minute noch hattet Ihr wie verklärt von der Republik der Gelehrten gesäuselt.

SPERONE: Ihr wißt vielleicht, daß hier noch vor wenigen Jahren ein feister Wirt sein Gasthaus betrieb, welches das gußeiserne Schild eines Ochsen zierte. Ja, die mittlere Aula dieses finsteren Baus soll einst ein Ochsenstall gewesen sein. Bis heute nennen die Studenten den Palast der Universität ›Il Bò‹. Seit jeher schien es mir ein bedeutsames Zeichen, daß gerade denkfaules Vieh für die Hohe Schule dieser Stadt steht.

CHIARA: Ihr übertreibt es wahrlich nicht mit Eurem Lob der Gelehrtenrepublik.

SPERONE: Die Universität war und ist ein Instrument: erst das der Kirche, dann des Staates, künftig vielleicht einmal des Geschäfts. Nur ihre Platonische Idee vermag ich zu loben. Von der hier wirklichen Anstalt muß ich zugeben, daß in ihr, wie Tullia bereits zart andeutete, ab und an die vierbeinigen Ochsen lediglich durch zweibeinige von schnöder Lustigkeit ersetzt wurden. Ochsen sind dienstbar; Ihr versteht, was ich meine. Übrigens betreibt die Universität eine eigene Vieharzneischule.

LUCIA: Wenn schon Europa sich in einen Stier verliebte, würde ich indes ganz gerne einmal Paduas akademischen Ochsenstall inspizieren.

SPERONE: Sowohl lieben als denken – trügt uns das Wort Philosophie nicht, dann ist beides verwandt –, könnt Ihr, edle Lucia, auch außerhalb der Hörsäle, ja weit besser als drinnen. Wer vermag zu lieben, wenn einer Haare spaltet? Wer vermag zu denken, wenn einer paukt? Sogar schlafen ist unter solchen Umständen leichter, wie ich gerade in unserer Paduaner Universitas scholarium oft genug beobachtete.

CHIARA: Denken tut not. Doch jemand muß es uns lehren. Richtete man nicht eben dazu die Universitäten ein?

SPERONE: In den Universitäten habt Ihr die Lehrer einer Zeit und eines Ortes; doch in den Büchern findet Ihr Lehrer aller Zeiten und aller Orte.

TULLIA : Aldus’ Söhne in Venedig, hört man, bezahlen es Euch in Zechinen, daß Ihr so werbend umherzieht. Ihr Verzeichnis der neuesten Bücher lugt aus Eurer Tasche.

CHIARA: Gewiß vermögen wir uns einzufühlen in die Sorgen eines Denkers von Gewerbe. In seine Geldsorgen jedenfalls. Doch wir kaufen nichts, ehe Ihr uns nicht erklärt habt, wie ein Buch zum Gefäß unseres Denkens wird.

SPERONE: Das weiß ich nicht besser als Ihr Leserinnen. Die Stunde gehört der Dialektik, nicht der Rhetorik. Ich werde Euer Denken nicht betreuen. Aber vielleicht finden wir gemeinsam die rechten Worte für das, wonach Chiara fragt.

LUCIA: Soviel steht fest: Das Buch denkt nicht für die, welche es lesen. Wer es liest, muß mit dem Buch denken.

SPERONE: Als Muster vor Augen stehen sollte uns ein Buch, das einen Gegenstand durchdenkt, kein solches, das zwischen allerlei hin und her springt. Wer unterhalten will, wechselt oft das Thema; varietas delectat. Aber denken wird nur, wer, ausdauernd, geduldig, beharrlich an einer Sache bleibt.

TULLIA : Monarchie ist eben auch im Geist der natürliche Zustand: Eines waltet über dem Mannigfaltigen. Diese Einheit läßt bei Büchern manchmal schon der Titel erkennen, etwa der des Livre de Prudence.

SPERONE: Christine de Pizan? Gerade diese kluge Venezianerin soll ja dem Unterhaltsamen geneigt gewesen sein.

TULLIA : Am Denken hinderte sie das nicht, wie wir bezeugen können. Wir übersetzen gerade ihr Buch von der Klugheit, der fürstlichen Tugend, ins Florentinische.

SPERONE: Dann wißt Ihr in der Tat, wovon Ihr redet. Wie gelingt es, daß das Buch, als in Schrift verkörpertes Denken, einen Gegenstand festhält?

CHIARA: Das Buch und diejenigen, die es lesen.

SPERONE: Allerdings. Vermögen wir das zu erklären?

CHIARA: Wäre das Denken ein Geistesblitz, dann bestünde das Problem nicht. Ein Augenblick fällt nicht in vieles auseinander, sonst wäre er keiner. Das Problem rührt von der Zeit als Dauer her.

TULLIA : Und doch ist, wovon das Problem stammt, zugleich dessen Lösung: Indem die Zeit die Wahrheit streckt, verdünnt sie diese und macht sie so, in Phasen, dem Denken erst verdaulich.

CHIARA: Wie verschieden aber kann Zeit ablaufen: hier in Disparates zerstückelt, dort, in konzentriertem Denken, ins Stetige gebunden.

LUCIA: Sind Bücher nicht seltsame Dinge, weil sie eben dies, Stetigkeit als errungene, vergessen lassen? Alles an ihnen ist gleichzeitig da, jedes Kapitel, jeder Absatz, jedes Wort.

CHIARA: Daß ununterbrochener Zusammenhang der Anstrengung des Denkens bedarf, vermag ein Buch vergessen zu machen, weil in ihm, und nur weil in ihm Zeit zu Raum verwandelt ist. Die Sätze, in denen ein Gedanke artikuliert wird, stehen im Buch ja neben-, über- und untereinander wie irgendein geistfernes Material, wie Blöcke, die einer aufgestapelt hat.

TULLIA : Wir sagen, verräterisch genug: Im Buch ›steht‹ das und das, und wirklich ›steht‹ es da, bewegt sich nicht; doch Denken ist Bewegung.

SPERONE: Ihr habt recht ; die räumlichen Beziehungen, die das Buch zeigt – das Daneben, Darüber, Darunter –, symbolisieren bloß jenen zeitlichen Vorgang, den wir...

Erscheint lt. Verlag 28.9.2021
Reihe/Serie Blaue Reihe
Blaue Reihe
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Ästhetik • Dialogische Philosophie • Erkenntnistheorie • Ethik • Politische Philosophie
ISBN-10 3-7873-4084-X / 378734084X
ISBN-13 978-3-7873-4084-2 / 9783787340842
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