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Nation - Nationalität - Nationalismus (eBook)

eBook Download: EPUB
2020 | 2. Auflage
213 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44383-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nation - Nationalität - Nationalismus -  Christian Jansen,  Henning Borggräfe
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Die Entstehung des Nationalismus ist eine der wichtigsten historischen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Christian Jansen und Henning Borggräfe bieten in diesem Studienbuch einen umfassenden Einstieg in die Nationalismusforschung und die Geschichte des Nationalismus in Europa. Sie diskutieren die Leitbegriffe und Fragestellungen der Nationalismusforschung, stellen die bedeutendsten Nationalismustheorien vor und behandeln ausgewählte Aspekte wie Nationalismus und Aggression, Nationalismus und Religion oder Nation und Geschlecht. Der deutschen, auf Sprache und Abstammung abhebenden Definition der Nation stellen sie das französische Modell der Nation als politischer Wertegemeinschaft, das Schweizer Modell einer Nation als Interessengemeinschaft sowie die konfliktreiche Nationenbildung auf dem Balkan gegenüber.

Christian Jansen ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier.

Christian Jansen ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier. Henning Borggräfe ist Direktor des NS-Dokumentationszentrums (NS-DOK) der Stadt Köln.

2. Der deutsche Nationalismus


Seit sich die überwiegende Mehrheit der deutschen Historiker nicht mehr als Propagandisten des deutschen Nationalismus versteht und die Geschichte der deutschen Nationsbildung nicht mehr als Heilsgeschichte schreibt, werden meistens zwei Arten von deutschem Nationalismus unterschieden. Eine frühe Form, die häufig als Patriotismus bezeichnet wird und von den Anfängen der deutschen Einigungsbestrebungen bis etwa zur Reichsgründung reichen soll, wird als progressiv, liberal und modernisierend einer späteren gegenübergestellt, die antidemokratisch, chauvinistisch, rassistisch und antimodern gewesen sei (vgl. grundlegend: Winkler 1978).

Otto Dann

In einer älteren Überblicksdarstellung – Otto Danns Nation und Nationalismus in Deutschland – reicht die Unterscheidung zweier grundverschiedener Nationalismen bis in die Begriffsdefinitionen hinein: Der frühe Nationalismus wird dort »Patriotismus« genannt und als »ein gesellschaftlich-politisches Verhalten« verstanden, »bei dem nicht die eigenen oder Gruppeninteressen im Vordergrund stehen [...], sondern die Gesellschaft als Ganzes, der Staat, die Umwelt, d. h. in älteren Begriffen: das bonum commune (Gemeinwohl), das Wohl des Vaterlandes (patria)«. Entsprechend wird die moderne Nation so definiert, dass sie »alle Bewohner des nationalen Territoriums« umfasse, die alle »den gleichen Anspruch auf Menschen- und Bürgerrechte« hätten, auf dem Prinzip der Volkssouveränität basiere, allen anderen Völkern »ein gleiches Recht auf Existenz [...] und auf Selbstbestimmung« zugestehe. Dieses Modell steht in der Tradition westlich-liberaler Modernisierungstheorien und blendet die xenophoben, rassistischen und imperialistischen Wesenszüge aus, die allen real existierenden Nationalismen eigen sind. So positiv die Definition des Patriotismus und der modernen Nationsidee ausfällt, so negativ ist die des »Nationalismus«, worunter Dann ein politisches Verhalten versteht, »das nicht von der Überzeugung der Gleichwertigkeit aller Menschen und Nationen getragen wird«, sondern andere Nationen »als minderwertig oder als Feinde einschätzt oder behandelt« (Dann 1996: 16–20).

Liberal- versus Radikal- nationalismus?

Nicht ganz so pointiert, aber mit derselben Tendenz trennte Hans-Ulrich Wehler einen als »Emanzipationsideologie« charakterisierten frühen »Liberalnationalismus« von einem erst nach der Reichsgründung virulenten »Radikalnationalismus«, der die Nation, die zunächst als Kulturgemeinschaft verstanden worden sei, »ethnisch-rassistisch umdefiniert« habe in eine »Volksnation«. Während der »Liberalnationalismus« dafür plädiert habe, verschiedene Nationen könnten »friedlich-harmonisch miteinander kooperieren«, habe der »Radikalnationalismus« des Kaiserreichs aggressive Feindbilder über die Nachbarvölker, »giftigen rassistischen Antisemitismus« und »pangermanische Expansionsideen« popularisiert und die Assimilation nationaler Minderheiten forciert (Wehler 1987: 510 f.; 1995: 954). Die wichtigsten Vertreter der Unterscheidung zwischen einem positiv zu bewertenden Patriotismus (Liberalnationalismus) und negativem (Radikal-)Nationalismus in Deutschland waren inzwischen meist verstorbene liberale Historiker, die von den Modernisierungstheorien der 1950er Jahre geprägt waren. Aber auch international einflussreiche Forscher, etwa Fritz Stern mit seiner breit rezipierten Studie über Lagarde, Langbehn und Moeller van den Bruck (Stern 1961), vertraten die Auffassung, dass der deutsche Nationalismus erst seit den 1880er Jahren völkisch, antisemitisch und antimodern geworden sei. Der Wehler-Schüler Jörg Echternkamp (Echternkamp 1998) übernahm zwar den Begriff »Liberalnationalismus« (und sprachlich noch unschöner »die Liberalnationalen« – terminologisch korrekt wäre: die liberalen Nationalisten), aber ohne die modernisierungstheoretischen Implikationen.

Dagegen behaupten wir, dass jegliche Form nationalistischen Denkens janusköpfig ist (vgl. Kapitel 1). Jeder Nationalismus strebt neben politischer Emanzipation Machtzuwachs auf Kosten anderer Völker und Nationen an. Nationalistisches Denken geht immer von der Höherwertigkeit der eigenen Nation aus. Also war bereits die frühe deutsche Einigungsbewegung nationalistisch, und es gab immer einen (unterschiedlich einflussreichen) »Radikalnationalismus«.

Voraussetzungen des deutschen Nationalismus

Geographische, politische und ideengeschichtliche Besonderheiten führten dazu, dass die nationalistische Bewegung sich in Deutschland unter wesentlich anderen Voraussetzungen entwickelte als in West- oder Nordeuropa, aber ähnlich wie in Ost(mittel)europa, wohin der deutsche nationalistische Diskurs ausstrahlte. Das Gebiet, das die deutschen Nationalisten einen wollten, war äußerst heterogen. Ältere regionale und lokale Gegensätze waren seit der Reformation und den aus ihr resultierenden Kriegen durch eine tiefe konfessionelle Spaltung überformt worden. Der neuzeitliche Staatsbildungsprozess hatte im Deutschen Reich die Divergenzen noch verstärkt, bis die »Flurbereinigung« durch Napoleon zwar zahllose kleine Herrschaften aufhob, aber zugleich den Trend zu einer Mehrzahl »deutscher« Staaten verstärkte, indem lebensfähige Mittelstaaten mit vielfältigen Unterschieden und Interessengegensätzen geschaffen wurden. Die Auflösung der Ständegesellschaft und die strukturellen Umbrüche unter französischer Herrschaft führten darüber hinaus zu neuen gesellschaftlichen Spaltungen, die die Klassengesellschaft ankündigten. Wegen der vielfältigen Fragmentierung und der ständischen Struktur des Alten Reichs waren seit den Anfängen des deutschen Nationalismus nicht nur die möglichen Grenzen eines Nationalstaats unklar und strittig, sondern auch Religion als Bindemittel entfiel.5

Als einige Intellektuelle Ende des 18. Jahrhunderts versuchten, nach westlichem Vorbild über den einzelstaatlichen Patriotismus hinaus »deutsches« Nationalbewusstsein zu erziehen, empfanden sie die Sprache und die über sie vermittelte literarische und geistige Kultur als einzige Gemeinsamkeiten. Dieser archimedische Punkt, auf den sich der frühe deutsche Nationalismus stützte, war jedoch zugleich, wie gezeigt werden soll, der Ausgangspunkt einer ethnischen Fundierung der deutschen Nation (ähnlich Lepsius 1990: 246).

Zur Spezifik des deutschen Nationalismus trug außerdem bei, dass er während der antinapoleonischen Kriege erstmals größere Resonanz fand, also im Befreiungskampf gegen ein Land, auf das sich leicht die Schuld am Niedergang deutscher Größe projizieren ließ (Hagemann 2019). Die napoleonische »Fremdherrschaft«, die sich das universalistische Programm der Französischen Revolution an die Fahnen geheftet hatte, verstärkte antiuniversalistische Tendenzen im deutschen Nationalbewusstsein. Deshalb wurde im deutschen Diskurs die prinzipielle Verschiedenheit der Völker betont. Die Annahme eines je eigenen »Nationalcharakters«, dem folgend jede Nation ihren Weg zu Freiheit und Selbstbestimmung finden müsse und der gegen die Übernahme der politischen Ideen einer anderen Nation – etwa aus Frankreich – sprach, wurde zum Paradigma der deutschen nationalistischen Geschichtsteleologie.

Volkskult

Die politische Opposition empfand jedoch die nach den »Befreiungskriegen« auf dem Wiener Kongress 1815 geschaffenen gesamtdeutschen Institutionen, den Deutschen Bund und seine Organe, als eine neue Fremdherrschaft, deren Zentrum statt in Paris nun in Wien und in der Heiligen Allianz der reaktionären, antinationalistischen Mächte Russland, Preußen und Österreich gesehen wurde. Es gab in der deutschen Opposition, zumal nach dem Scheitern der preußischen Reformer, im Vergleich zu West- oder Nordeuropa extrem wenig Identifikation mit staatlichen Institutionen. Dieser Umstand verstärkte die Tendenz, das Volk zu einer authentischen Kraft, zur Inkarnation des »Deutschtums« (oder der »Deutschheit«) zu stilisieren, auf die sich eine Reorganisation des politischen Systems zu stützen habe. Dies führte zu einem mystifizierenden Volkskult und in Verbindung mit dem Strukturproblem, wo »Deutschland« enden sollte, zu einer unpolitischen, auf angeblich natürliche, ethnische Faktoren gestützten Form des Nationalismus.

Charakteristika des frühen Nationalismus

Wesentliche Komponenten dessen, was die ältere Forschung als »Radikalnationalismus« bezeichnet hat, gehörten deshalb bereits im 19....

Erscheint lt. Verlag 19.8.2020
Reihe/Serie Historische Einführungen
Historische Einführungen
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Allgemeines / Lexika
Schlagworte 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Deutschland • Frankreich • Geschichte • Geschichtswissenschaft • Nation • Nationalismus • Nationalismustheorie • Nationsbildung • Schweiz
ISBN-10 3-593-44383-X / 359344383X
ISBN-13 978-3-593-44383-6 / 9783593443836
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