Jüdisches Denken: Theologie - Philosophie - Mystik (eBook)
660 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-43230-4 (ISBN)
Karl Erich Grözinger ist Professor emeritus für Religionswissenschaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam und war Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Er ist Vorsitzender der Ephraim Veitel Stiftung, der ältesten und von ihm seit 2007 wiederbelebten jüdischen Stiftung in Deutschland.
Karl Erich Grözinger ist Professor emeritus für Religionswissenschaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam und war Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Er ist Vorsitzender der Ephraim Veitel Stiftung, der ältesten und von ihm seit 2007 wiederbelebten jüdischen Stiftung in Deutschland.
INHALT 6
VORWORT 18
EINFÜHRUNG 20
1. Zionismus und Schoah – Wendepunkte der jüdischen Geschichte und des jüdischen Denkens 20
2. Nationales und zionistisches Denken 23
2.1 Vorbemerkung 23
2.2 Die Ursachen des neuen Denkens 24
2.3 Definitionen von Nation 28
2.4 Die unterschiedlichen zionistischen Richtungen 29
2.4.1 Der politische Zionismus 30
2.4.2 Der Kulturzionismus 31
2.4.3 Zionismus als Selbstfindung in Natur und Arbeit 31
2.4.4 Der religiöse Zionismus 32
2.4.5 Zionismus-Kritik und »Postzionisten« 33
2.4.6 Zionismus nach der Gründung des Staates Israel 34
2.4.7 Weitere Autoren aller Richtungen 35
3. Jüdisches Denken zur Schoah 36
3.1 Die Verwendung des Begriffs »Holocaust« – eine notwendige Vorbemerkung und das Beispiel der Treblinka-.Akeda 36
3.2. Der Beginn der theologischen und philosophischen Reflexion zur Schoah 42
3.2.1 Theodizee und Anti-Theodizee 42
3.2.2 Ignaz Maybaum (1897–1976) 43
3.2.3 Menachem Immanuel Hartom (1916–1992) 45
3.2.4 Jizchak Hutner (1906–1980) 46
3.2.5 Arthur A. Cohen (1928–1986) 48
4. Neues Denken nach der Schoah 48
4.1 Das Ringen um Judentum und Religion ohne Theodizee 48
4.2 Eine satirisch sarkastische Zurückweisung theologischer Deutungen des Holocaust – Adi Ofir (geb. 1951) 51
5. »Das Exil wird länger, des Vergessens wegen, aber im Erinnern liegt das Geheimnis der Erlösung« 53
5.1 Die Bedeutung von Erinnern – Vorbemerkung 53
5.2 Primo Levis Bemerkungen zum Erinnern im Kontext der jüdischen Tradition 54
5.3 Erinnern in der jüdischen Religionsgeschichte – bis zur Formel vom Vergessen und Erinnern als den Insignien von Exil und Erlösung 59
TEIL I – DER ZIONISMUS 64
I. DER SOZIALDEMOKRATISCH-GENETISCH-DYNAMISCHE ANSATZ – MOSES MORITZ (MAURICE) HESS (1812–1875) – EINGESCHLOSSEN DIE PRAKTISCHEN FORDERUNGEN ZUR PALÄSTINAARBEIT VON ZWI HIRSCH KALISCHER (1795–1874) 66
1. Biographisches 66
2. Hess-Deutungen 70
3. Rom und Jerusalem die letzte Nationalitätsfrage 74
3.1 Das Neue und der unmittelbare Anlass 74
3.2 Gründe von Hess für die neuerliche nationale Wende 76
3.3 Das Judentum als Volk und Nation 77
3.4 Argumente für das Verständnis des Judentums als Nation 79
3.4.1 Das traditionell religiöse Bewusstsein – die Gebete und das Hebräische 79
3.4.2 Die verfehlte Emanzipation 81
3.4.3 Die genetischen Bedingungen 83
4. Was ist eine Nation? – Definitionen 83
5. Die genetische Weltanschauung oder die Dynamische Stofflehre – Basis des »rassischen« Verständnisses von Nation 86
5.1 Ontologischer Monismus und das Ende des Idealismus 86
5.2 Die dynamische Stofflehre 89
5.2.1 Die Existenzbereiche und deren Lebensrhythmen 92
5.2.2 Ziele des organischen und sozialen Lebens – Rasse und soziale Demokratie 93
6. Die Lehren von Volk, Rasse, Nation, Gott und Kosmos in Rom und Jerusalem 96
6.1 Die Menschheit und ihre genetischen Rassen 96
6.2 Die Rhythmen der kosmischen und weltgeschichtlichen Entwicklung 100
6.3 Religion und Nation 102
6.4 Gott in Kosmos und Geschichte 107
7. Das nationale zionistische Programm – Hess – Laharanne – Kalischer 113
II. DER SOZIALPSYCHOLOGISCH-TERRITORIALISTISCHE ANSATZ – LEON (JUDAH LEJB) PINSKER (1821–1891) 119
1. Biographisches 119
2. Der neue Denkansatz von Pinsker 120
3. Die Diagnose – Normalität und Anomalie 122
3.1 Die jüdische Seite des Problems 122
3.2 Die nichtjüdische Seite des Problems 125
4. Die nötigen Lösungen – ein jüdisches Territorium 130
5. Die praktischen Folgerungen 133
III. DER SOZIOLOGISCH-STAATSRECHTLICHE ANSATZ – THEODOR BINJAMIN SE’EV HERZL (1860–1904) 136
1. Biographisches 136
2. Der Judenstaat 138
3. Judennot und Judenfrage 140
4. Die wirtschaftlichen und politischen Schritte zur Lösung 142
4.1 Die politischen Schritte – die Society of Jews 142
4.2 Die Theorie vom Rechtsgrund des Staates 143
4.2.1 Volk oder Land als Staatsgrundlage? 143
4.2.2 Ein nicht greifbares Volk als Staatsgrundlage? 146
4.2.3 Die wirtschaftlichen Schritte – die Jewish Company 149
4.2.4 Die Aufgaben der Jewish Company 153
4.2.5 »Die Landergreifung« – Beginn der Umsiedlungsarbeiten – Wahl des Territoriums 155
4.2.6 Struktur, Institutionen und Symbole des neuen Judenstaates 156
IV. DER SÄKULAR-SOZIOLOGISCH-KULTURELLE ANSATZ – ASCHER (USCHER) ZWI HIRSCH GINZBERG – DAS ISTACHAD HAAM (1856–1927) 160
1. Biographisches und Persönliches 160
2. Grundlagen und Voraussetzungen 165
3. Die Situation des Judentums in der Gegenwart – die Analyse 170
4. »Wir sind ein Volk« – Das Judentum als Nation 176
4.1 Die nationbildende Grundlage 176
4.2 Nationale Moral und Religion 186
4.2.1 Die jüdisch-nationale Ethik 189
4.2.2 Der Gesellschaftsmensch 194
5. Wesen und Funktion der Religion im Rahmen der jüdischen Kultur 199
6. »Priester und Prophet« 205
7. Lösung und Ziel der nationalen Frage: Ein nationales geistiges Zentrum 209
V. INDIVIDUUM - NATION - NATUR UND KOSMOS – AHARON DAVID GORDON (1856–1922) 216
1. Biographisches 216
2. Philosophische Voraussetzungen 218
2.1 Der allgemeine Rahmen 218
2.2 Gordon-Deutungen 220
3. Gordons Lehre vom Individuum, vom »Ich« – und die Quellen aus denen er schöpfte 222
3.1 Max Stirners Lehre vom Ego 222
3.2 Nietzsche und der »Übermensch« 224
3.3 Gemeinsame Motive des Individualismus bei Nietzsche und Gordon 226
4. Grundstruktur des Denkens von A. D. Gordon 230
4.1 Gordons Lehre vom Individuum – ha-Jachid 231
4.2 Selbst-Sein als imago dei 233
5. Das Individuum und seine Weltwahrnehmung 235
5.1 Arthur Schopenhauer und Henri Bergson 235
5.2 A. D. Gordon – zwei Weisen, die Welt wahrzunehmen 236
5.3 Das »Er-leben« – die .awaja 238
5.4 Zimzum und Hitpaschtut – beschränkte und ausweitende Wahrnehmung 241
5.5 Das wegen falscher Wahrnehmungsprioritäten entfremdete Individuum 243
6. Die Religion 249
6.1 Neue Wege des Religionsverständnisses 249
6.2 Form und Inhalt der Religion 252
7. »Gott« oder der Verborgene Intellekt – die Grundlagen der Ethik 254
7.1 Die Grundlage der Ethik ein »kantisches« Postulat 254
7.2 Der doppelte »Verborgene Intellekt« 257
8. Der Mensch und die Natur 263
8.1 Das einfache Leben – nach Lev (Leo) Tolstoj 263
8.2 Gordons Sicht der kosmischen Natur und des Menschen Stellung in ihr 265
8.3 Die konkrete Natur und der Mensch 268
8.4 Die »Umkehr« 270
9. Die Bedeutung der Arbeit für das menschliche Leben 272
9.1 Kontexte für Gordons Arbeitsethos 272
9.2 Biblische und rabbinische Positionen 273
9.3 Auffassungen im 19. Jahrhundert 274
9.4 Die Bedeutung der Arbeit bei Gordon 277
10. Die Nation und deren Erneuerung 279
11. Die Bedeutung des Landes Israel und der Geschichte für die jüdische Nation 284
VI. DER APOKALYPTISCH-MESSIANISCH-DEMOKRATISCHEANSATZ – JEHUDA BEN SALOMON ALKALAI (1798–1878) 288
1. Biographisches 288
2. Der apokalyptisch-messianische Motivationsgrund 290
3. Die Duplizierung rabbinischer Konzepte als zionistisches Programm 293
3.1 Die Methode der Traditionsreduplikation 293
3.2 Zwei Weisen der Erlösung – natürlich und übernatürlich 296
3.3 Zwei Messiasse 297
3.3.1 Der neue Messias Ben Josef 297
3.3.2 Die Könige der Völker als »Retter« 303
3.3.3 Der Messias Ben David 305
3.4 Die Reduplizierung der Teschuva – der Umkehr – als Rückkehr in das Land der Väter 307
3.5 Die Sünde der Teschuva-Verweigerung – das Reformjudentum 310
4. Das messianisch-politische Programm 313
5. Die Zehntabgabe 316
VII. DIE WIEDERBELEBUNG DER NATION DURCH ERKENNTNIS, GLAUBE UND GEISTIGE FREIHEIT – AVRAHAM JIZCHAK HA-KOHEN KUK (KOOK)(1865–1935) 319
1. Biographisches 319
2. Die Werke Kuks – sind sie das Werk der Schüler? 321
3. Philosophische Voraussetzungen und Grundcharakteristika des Kuk'schen Denkens 328
3.1 Unterschiedliche Anklänge 328
3.2 Motive von Henri Bergson im Denken von Kuk 330
4. Die Seele – der Fokus des Kuk'schen Denkens 336
4.1 Die Aufgabe der Wiederbelebung Israels: Spirituelle Erneuerung – eine neue Erkenntnislehre 336
4.2 Schreiben als Entlastung und Pflege der Seele 336
4.3 Die Seele – ihr Ort im neoplatonischen Weltbild Kuks 339
4.4 Befindlichkeiten der Seele 342
4.5 Die Erkenntnissuche der Seele 342
4.5.1 Die Welt als Vorstellung - Erkenntnis, Vernunft, Glaube 346
4.6 Die Welt als Wille 374
5. Die Einheit von Gott und Welt – Sichtweisen 380
6. Der unendliche Aufstieg und die vollkommene Vollendung der Gottheit und des Alls 382
7. Israel als Ideal, als psychische Eminenz in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 384
7.1 Die Erwählung 384
7.2 Die Nation und deren Auferstehung 388
8. Das Land Israel 393
8.1 Das Land Israel im Denken von Avraham Jizchak Kuk – dem Vater 393
8.2 Die Politisierung und Materialisierung der Kuk'schen Deutungen vom Land Israel durch den Sohn Zvi Jehuda Kuk – Exkurs 396
9. Die zionistische Bewegung, der »Anfang der Erlösung«? 398
10. Selbstbetrachtungen, Konfessionen, Mystik 404
VIII. ZIONISMUSKRITIK UND POST-ZIONISTEN 410
1. Kritik am Zionismus aus der Mitte des Zionismus 410
1.1 Heinrich Margulies (Margalit) (1890–1989) – wider ideologische Parteiungen 410
1.1.1 Biographische Notiz 410
1.1.2 Kritik des Zionismus 410
1.2 Martin Buber (1878–1965) – wider unideologische Verallgemeinerung – ein Programm der Erneuerung des jüdischen Menschen und der jüdischen Gesellschaft 415
1.2.1 Vorbemerkung und biographische Notiz 415
1.2.2 Martin Bubers Ablehnung der Gründung eines jüdischen Staates kurz vor und nach deren Realisierung 417
1.2.3 Zweierlei Zionismus 419
2. Zionismuskritik von außen – die sogenannten Post-Zionisten 424
2.1 Eine Momentaufnahme von 2012 zur Debatte um den Zionismus 424
2.2 Hat der Zionismus seine Ziele erreicht und somit seine Ära beendet? 434
2.2.1 Die Judennot 435
2.2.2 Die Not des Judentums 437
2.2.3 Die religiöse Erlösungsnot 439
2.2.4 Der Friede mit der arabischen Bevölkerung Palästinas 440
2.2.5 Das Resultat 440
IX. »JÜDISCHER NATIONALISMUS« NACH DER GRÜNDUNG DES STAATES ISRAEL UND NACH DEM SECHS-TAGE-KRIEG VON 1967 – ELIEZER SCHWEID (GEB. 1929) 442
1. Biographische Notiz 442
2. Das ursprüngliche Ziel des »klassischen« Zionismus – ein Rückblick nach dem Sechstagekrieg von 1967 442
3. Eine Bestandsaufnahme des Erreichten – Fortbestand der alten Probleme 444
4. Das Judentum – die nicht verstandene Nationalität 447
4.1 Das mangelnde Verstehen der Eigenart jüdischer Existenz 447
4.1.1 Die christlichen Kirchen 448
4.1.2 Die internationale areligiöse »Linke« 448
4.1.3 Die modernen Nationalismen der Gegenwart – insbesondere die arabischen 449
4.1.4 Falsches Selbstverständnis verschiedener jüdischer Gruppen 450
5. Die Einheit und gegenseitige Verantwortlichkeit des jüdischen Volkes als zentrales Element jüdischer Identität 452
6. Braucht der Staat Israel eine zionistische Politik? 456
7. »Das Land Israel als Heimatland des jüdischen Volkes« 458
7.1 Die politische Schlussfolgerung vorweg 458
7.2 Die Begründung des jüdischen Heimatrechts auf 'Erez Jisra'el 459
TEIL II – DIE SCHOAH 468
I. .ASIDISCHE STIMMEN AUS DER BEDRÄNGNIS – EINE UNGEBROCHENE ZERBROCHENE WELT 470
1. Der Trostbrief des Gurer Rebben – .asidische Verhaltensweisen 470
2. Predigten im Warschauer Ghetto 1940–1943 – R. Kalonymos Kalmisch Schapiro 473
2.1 Der Fund im Warschauer Ghetto 473
2.2 Die gegenwärtigen Leiden – Gründe – Bewertungen 474
2.3 Die Not und Trauer – im Rahmen des .asidischen Weltbildes 476
2.4 Trost mit den alten Schriften 478
II. GLAUBE NACH AUSCHWITZ – »HOLOCAUSTTHEOLOGIE«, DER TOD GOTTES IN AUSCHWITZ – RICHARD L. RUBENSTEIN (GEB. 1924) 481
1. Biographisches 481
2. Grundlinien von Rubensteins Denken 482
3. Der Tod Gottes und der »Holocaust« 484
4. Religion ohne Gott als priesterlich-sakramental heidnische Religion 487
5. Ein moderner Gottesbegriff 494
5.1 Zwei Vorgaben für einen möglichen Gottesbegriff 494
5.2 Gott als »ultimate concern« 495
5.3 Gott als der Urgrund und das Nichts 499
III. AUTHENTISCHE ANTWORTEN AUF DIE SCHOAH IM VOLLEN BEWUSSTSEIN DER GESCHICHTE – EMIL L. FACKENHEIM (1916–2003) 502
1. Biographisches 502
2. Grundlinien des Denkens 503
3. Die Einzigartigkeit des »Holocaust« 506
4. Die Geschichte und das Judentum – die Rückkehr des Judentums in die Geschichte 512
5. Die theologisch-religiöse Begründung der Relevanz von Geschichte für das Denken und Handeln des Nach-Schoah Judentums 513
5.1. »The commanding Voice of Auschwitz« – das 614te Gebot 518
5.2 Offenbarung und Geschichte – das Entstehen der Offenbarung aus dem Geschehen der Geschichte 520
6. Die philosophische Begründung der Relevanz von Geschichte für das Denken und Handeln des Nach-Schoah Judentums und der Völker der Welt 527
6.1 Vorbemerkung – Ortsverschiebung von »root-experience« und »epoch-making experience« 527
6.2 Die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins – Grundlinien der Philosophie 530
6.3 Epochemachende Ereignisse und ihr Einfluss auf das Judentum in der Vergangenheit und in der Zukunft 532
6.4 Das menschliche Dasein als zeitliches und geschichtliches – Fackenheim an der Hand von Heidegger 535
6.4.1 Differenz und Kritik – die Trennung der Wege von Fackenheim und Heidegger 538
6.4.2 Die Zerstörung des zentralen Heideggerschen Daseins-Existenzials – die Möglichkeit des eigenen Todes – durch die Nationalsozialisten 540
6.5 Post-Holocaust-Dasein als Widerstand – die authentische Antwort der Nachlebenden 543
6.5.1 Die existenziell-ontische Seite des hermeneutischen Zirkels – der Widerstand im Lager 543
6.5.2 Das Objekt des Widerstandes in den Todeslagern 544
6.5.3 Die existenzial-ontologische Seite des hermeneutischen Zirkels – Widerstand als ontologische Möglichkeit menschlichen Seins 549
6.6 Tikkun .Olam – die Wiederherstellung zuvor gewesener Daseinsmöglichkeiten – Dasein als Wiederholung des Widerstandes von einst 554
7. Authentisches jüdisches Leben nach der Schoah – die Bedeutung des Staates Israel 559
IV. HOLOCAUST UND STAATSGRÜNDUNG ISRAELS ERÖFFNEN EINE NEUE ÄRA DES JUDENTUMS – IRVING YITZCHAK GREENBERG (GEB. 1933) 564
1. Biographisches 564
2. Grundlinien des Denkens 564
3. Das Versagen der überkommenen Denksysteme vor und während der Schoah 566
4. Die Unmöglichkeit neuer abgeschlossener Denksysteme 568
5. Die Validität der modernen Orthodoxie vom Schlage Greenbergs 570
5.1 Das alte-neue orthodoxe Glaubensbekenntnis 570
5.1.1 Die Auflösung des Konfliktes zwischen orthodoxem Credo und der Wirklichkeit 572
5.1.2 Offenbarung in der Geschichte – die dogmatische Lösung 572
5.1.3 Die fideistische Lösung – Augenblicke des Glaubens 573
5.1.4 Die ontologisch-epistemologische Lösung – die Gebrochenheit der Erkenntnis 575
5.1.5 Die historiosophisch-theologische Lösung – die drei Epochen der jüdischen Geschichte und des jüdischen Denkens 579
V. GOTTES VERBORGENHEIT – MENSCHLICHE VERANTWORTUNG – ELIEZER BERKOVITS (1908–1992) UND EMMANUEL LÉVINAS (1905/6–1995) 589
I. ELIEZER BERKOVITS 589
1. Biographisches 589
2. Grundlinien des Denkens – die Stellung des »Holocaust« in der jüdischen Geschichte 590
3. Ist die Schoah einzigartig? – die Möglichkeit des Kiddusch ha-Schem 592
4. Ist Gott trotz des menschlichen Leidens in der Welt der gerechte Gott der Geschichte? – eine ontologischeTheodizee 595
5. Die Macht Gottes und die Existenz Israels 601
6. Imitatio Dei – Machtlosigkeit Israels – auch als Staat 602
7. Eine Neubewertung der Schoah und des jüdischen Staates mittels der Exils-Vorstellung 605
II. EMMANUEL LÉVINAS 609
1. Biographische Notiz 609
2. Gottes Verborgenheit und menschliche Verantwortung 609
VI. DER MENSCH IN DER VERANTWORTUNG DER GOTTESENTWICKLUNG – HANS JONAS (1903–1993) 615
1. Biographisches 615
2. »Der Gottesbegriff nach Auschwitz« 617
2.1 Vorbemerkung 617
2.2 Warum Gott? 618
2.3 Der Spalt der Öffnung zum Ewigen: Das Entscheiden und das Handeln im Jetzt 620
2.4 Die Symbole zur Bezeichnung der Ewigkeitsteilhabe 623
2.5 Der moderne Mythos vom Weltabenteuer Gottes 625
2.6 Die ethischen Folgerungen aus dem Gott-Welt-Mythos 627
2.7 Die Deutung des Mythos vom göttlichen Weltabenteuer 629
2.7.1 … »nach Auschwitz« 630
2.7.2 Der Gott des neuen Mythos und der biblisch-jüdische Gott 633
VII. DIE SCHOAH, DAS ENDE DES EXIL-JUDENTUMS – DIE LEHREN AUS DER GESCHICHTE – ELIEZER SCHWEID (GEB. 1929) 637
1. Gedenktage und die Befindlichkeiten des jüdischen Volkes 637
2. Ursachen der Schoah 641
2.1 Die Verfasstheit der jüdischen Nation vor und nach der Emanzipation 641
2.2 Der »Juden-Hass« – dessen anthropologische und soziale Ursachen 642
2.3 Der Verlust des gemeinsamen religiösen Nenners in der Neuzeit – die Masse als neue Basis der Gesellschaften und neue technische Möglichkeiten 644
3. Die Schoah war nicht unausweichlich und bleibt auch weiterhin eine Möglichkeit – Schlussfolgerung 645
EPILOG 647
REGISTER 648
BIBLIOGRAPHIE 661
EINFÜHRUNG
1. Zionismus und Schoah - Wendepunkte der jüdischen Geschichte und des jüdischen Denkens
Der Zionismus und die Schoah sind jedes für sich und beide zusammen nicht nur epochale Wendepunkte in der jüdischen Geschichte, sondern ebenso im jüdischen Denken. Der Zionismus hat mit dem Denken des 'Exil-Judentums' gebrochen, hat die alten typologischen Geschichtsvorstellungen aufgegeben, das rabbinische messianische Erlösungskonzept beiseitegeschoben und ist in die politische Geschichte zurückgekehrt. Das gottergebene Warten auf die Rückführung des Volkes Israel in das verheißene Land, das Bewusstsein, in einem alte Sünden sühnenden Exil dulden zu müssen, all dies sollte nun nicht mehr gelten. Neue Formen der Selbsteinschätzung und Identitätsbestimmung sowie daraus abgeleitete Handlungsmaximen stellten in vielen Bereichen einen vollkommenen Bruch mit der rabbinischen Vergangenheit dar, wie sie seit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 der bürgerlichen Zeitrechnung gegolten hatten. Hier wird ein neues Judentum gebaut, welches das zweitausendjährige 'Exil-Judentum' ablösen wollte und sollte - dies gilt in gewisser Weise nicht nur für die säkularen, sondern auch für die religiösen Formen des modernen Zionismus.
Ganz anders aber genauso grundlegend hat die Schoah das jüdische Denken in neue Bahnen gelenkt. Natürlich gab und gibt es bis heute orthodoxe Denkweisen, welche die Schoah nur als ein weiteres Glied der jahrtausendealten Verfolgungs- und Exils-Geschichte Israels sehen wollen und nach deren Ansicht hier kein qualitativ neues Geschehen stattgefunden hatte. Aber eine Vielzahl - gerade der fortschrittlichen, aber auch orthodoxer Denker, sieht mit der Schoah einen qualitativen Bruch, ein Geschehen, das sich von den bisherigen Verfolgungen der Juden nicht nur dem quantitativen Ausmaß nach unterscheidet. Solche Denker sehen deswegen auch die Notwendigkeit, das jüdische Selbstverständnis als Individuum wie als Nation neu zu überdenken, zu überlegen, wie jüdisches Leben nach diesem grundstürzenden Ereignis neu zu rechtfertigen, zu bauen, zu planen und zu stärken sei. Der Genozid, der ein Drittel der jüdischen Weltbevölkerung auslösche und bis zu 80 Prozent der religiös-rabbinischen Elite, musste eine kritische Neubewertung für Politik, Theologie, Philosophie, jüdische Identität und die nötige Zukunftsgestaltung der Verfasstheit des jüdischen Volkes auslösen. Es galt die grundlegende Frage zu stellen, ob das Judentum nach diesem furchtbaren Morden noch eine Zukunft als eigene religiöse oder kulturelle Entität haben kann, und wenn ja, wie diese zu sichern sei.
Diese beiden das Denken grundsätzlich herausfordernden so unterschiedlichen Ereignisse, das eine positiv, das andere negativ, wurden von vielen der hier vorgestellten Denker im Nachhinein als eine dialektische Einheit begriffen, sei es, dass die Schoah das Anliegen des Zionismus rechtfertigt, sei es in dem Sinne, dass der Zionismus - vor allem dessen Krönung in der Staatsgründung Israels - nach der Schoah der einzig verbliebene Rettungs- und Hoffnungsanker der Überlebenden Individuen und des Volkes Israel als Ganzem sei - dies durchaus auch mit religiösen und heilsgeschichtlichen Übertönen.
Die Gründung eines jüdischen Staates nach 2000 Jahren Exil hat insbesondere nach dem bloßes Entsetzen und Starre auslösenden Genozid am europäischen Judentum nicht nur für die in diesen Staat Israel geflohenen oder eingewanderten Juden eine Neujustierung des jüdischen Selbstverständnisses erfordert, sondern für die gesamte Diaspora, die jetzt nicht mehr Exil genannt zu werden braucht.
Das gesamte jüdische Denken im zwanzigsten Jahrhundert muss daher in ein Denken vor Schoah und Staatsgründung und ein solches danach unterschieden werden. Diese beiden Ereignisse sind wie eine Wasserscheide, wie ein tiefer Graben, selbst wenn manche orthodoxen Kreise dies nicht so sehen mögen. Aber immerhin haben die Ereignisse der Schoah auch bei vielen orthodoxen Antizionisten ein Umdenken bewirkt, so dass es nur ganz kleine ?asidische Gruppen oder die sogenannten Neture Karta (Hüter der Stadt) sind, deren Antizionismus sich bis heute als eine aktive Gegnerschaft gegen den neugegründeten jüdischen Staat ausdrückt. Aber gerade auch diese Haltung hat durch die beiden Ereignisse eine neue Bedeutung bekommen, die oft tragische Züge annimmt.
Nachdem im Jahre 1948 das zionistische Ziel der Staatsgründung erreicht worden war, erhob sich natürlich die Frage, ob sich der Zionismus als politisch-ideologische Bewegung erübrigt hat und seine Weiterführung bis in die Gegenwart noch gerechtfertigt sei, oder ob es noch ausstehende Vorhaben zu erarbeiten gebe. Die Antwort auf diese Frage ist je nach ideologischer Ausrichtung oder Parteizugehörigkeit der Disputanten umstritten.
Schoah und Staatsgründung sind Ereignisse, die chronologisch im Wesentlichen zu all jenen Autoren und Denkern gehören, die im 20. und 21. Jahrhundert sich Gehör verschafften und die zunächst allesamt im vierten Band des Jüdischen Denkens behandelt werden sollten, nun aber auf zwei Bände aufgeteilt wurden. Es stellte sich für die Aufteilung des Stoffes die Frage, inwieweit es berechtigt ist, das Denken zu Zionismus und Schoah aus seinem chronologischen Kontext herauszunehmen und ihm einen eigenen, gar gemeinsamen Band des Jüdischen Denkens zu widmen. Die Antwort auf diese Frage ist aus der Sicht der meisten in diesem Band vertretenen Denker, die sich der Schoah gewidmet haben, eine uneingeschränkte Befürwortung einer solchen gemeinsamen Heraushebung von Zionismus, Staatsgründung und Schoah aus dem übrigen philosophischen und theologischen Diskurs. Aber auch für den im Nachhinein prüfenden Historiker des jüdischen Denkens ergibt sich diese Berechtigung, weil aus der Distanz betrachtet beide Ereignisse - so unterschiedlich, ja gegensätzlich sie tatsächlich waren - in einer Weise verbunden sind, die Zionismus und Schoah zusammengenommen als großen dialektischen Umbruch im jüdischen Denken erscheinen lassen, der bis hinein in die Erkenntnislehre reicht. In dieser Beurteilung selbst sind allerdings bereits epistemische Voraussetzungen involviert.
Die unterschiedlichen Beurteilungen von Zionismus und Schoah sind in nichts weniger als in grundlegenden Differenzen der Weltsicht und der conditio judaica begründet. All jene Autoren, die noch dem traditionellen rabbinischen Denk-Paradigma verhaftet blieben, haben den Zionismus und die Schoah in ihr überkommenes Geschichtsdenken eingefügt, in dem beide Ereignisse tatsächlich keinerlei Recht beanspruchen können, als Wendepunkt zu einer neuen Ära betrachtet zu werden. Für das traditionelle rabbinisch geprägte Denken war der Zionismus eine zu verwerfende Abweichung von der überkommenen jüdischen Tradition, nach welcher das Volk Israel von seinem Gott ins Exil verstreut wurde, wo es so lange bleiben sollte, bis der von Gott erwählte Messias das Exilsdasein der Juden beendet und sie wieder in die Geschichte, oder besser an deren Ende, hinüberführt. Auch die etwas moderneren rabbinischen Konzeptionen, wie sie in Band drei des Jüdischen Denkens vorgestellt wurden, sahen die Rolle der Juden weiterhin in theologischen und heilsgeschichtlichen Kategorien, wenn sie diesen in der Zerstreuung eine Weltmission zuschrieben, welche zur Herbeiführung eines universalen messianischen Reiches als der Quelle einer umfassenden Weltgerechtigkeit führen würde. Die Schoah hingegen ist für dieses überkommene Denken nur ein weiteres Glied in der langen und schmerzlichen Verfolgungsgeschichte der Juden, demnach auch nichts Neues und kein Umbruch in der Geschichte. Dies betrifft auch die mögliche Suche nach Antworten auf die brennende Frage nach den Ursachen des Leidens, die dann meist in der menschlichen Sünde gesucht werden.
Wollte man hingegen in Zionismus, Staatsgründung und Schoah eine grundsätzliche Wende im jüdischen Selbstbewusstsein sehen, erforderte dies neue Denkkategorien aus den unterschiedlichsten Wissenschaften, der modernen Historiographie, der Philosophie, der Soziologie, der Anthropologie, aber auch der Theologie, welche das Geschehen in Zionismus und Schoah in einem völlig anderen Licht erscheinen ließen als es sich für das überkommene Denken darstellte. Und es ist ausschließlich dieses neue Licht, diese neuen Zugangsweisen im Verstehen des menschlichen Daseins, die eine neue Bewertung von Zionismus und Schoah ermöglichten, ja den Zionismus überhaupt erst entstehen ließen. Und gemessen mit diesen neuen Maßstäben, nach denen im Nachhinein auch die ältere Vorgeschichte neu vermessen wird, erscheinen Zionismus und Schoah je für sich als Umbrüche im jüdischen Dasein, in der jüdischen Geschichte und im jüdischen Denken. Jedes dieser beiden Ereignisse für sich genommen lässt im Licht des neuen Denkens schon einen solchen Umbruch erkennen, um wieviel mehr, wenn man sie beide zusammen betrachtet. Wiewohl beide Ereignisse schon chronologisch eine gewisse Verflechtung besaßen, wurden sie in den nachherigen reflektierenden Bewertungen der conditio judaica durch die jüdischen Denker zu einer dialektischen Einheit verbunden, so dass sie beide zusammengenommen als die große und umfassende Wende im jüdischen Dasein und Bewusstsein erscheinen mussten. Um es auf einen ersten Begriff zu bringen, der von den Autoren beider Themen gebraucht wurde: Das Judentum ist durch Zionismus und Schoah wieder in die Geschichte zurückgekehrt, sei es als wollendes Vorausdenken oder als resümierendes Nach-Denken. Das Dasein des Judentums als Exilsdasein ist und musste mit den beiden Ereignissen als zuende gekommen betrachtet werden.
2. Nationales und zionistisches Denken
2.1 Vorbemerkung
Der Zionismus, oder das nationale jüdische Denken, setzte schon tief im 19. Jahrhundert ein, erfuhr mit der von Theodor Herzl beim ersten Zionistenkongress in Basel vom 29.-31. August 1897 gegründeten zionistischen Weltorganisation seinen ersten Höhepunkt, der dann durch die Gründung des ersten jüdischen Staates nach fast 2000 Jahren vom 14. auf den 15. Mai 1948 (5. Ijjar 5708) gekrönt wurde.
Das nationale jüdische Denken ist im Kontext des europäischen Völkerfrühlings des 19. Jahrhunderts aufgebrochen und hatte seit dieser Zeit, bis in das beginnende 20. Jahrhundert hinein den Charakter des Utopischen, eines Denkens, das mit den bisherigen Denktraditionen brechen wollte, um im Rahmen der Geschichte Neues, bisher nicht Denkbares zu konzipieren und um daraus zur Tat, zur politischen Veränderung aufzurufen - konkret zur Rückkehr der Juden in das in ihrem Bewusstsein und in der religiösen Tradition stets als Hoffnungsziel bewahrte Heilige Land, das Land der Väter Israels. Haupttriebfeder dieser Phase des erwachenden nationalen politischen Denkens im Judentum war zum einen die beklagenswerte, ja katastrophale Lebenssituation der Juden in den europäischen Ländern und darüber hinaus, und zum andern der Versuch, die jüdische Exilssituation nicht nur als liturgisch-theologisches Bewusstsein zu zelebrieren, sondern als politisch-soziale Realität. Letzteres sollte dazu führen, die Lage der Juden als Politikum darzustellen, ein Politikum das in die Handlungsvollmacht der lebenden und agierenden Juden und Staaten gehört, also nicht als ein gottgewolltes Schicksal hinzunehmen sei. Das Volk Israel sollte, wie dies Moses Hess einmal formulierte, wieder auf das Gleis der Geschichte gestellt werden. Es war der Aufruf, aus der Fremdbestimmung unter den nichtjüdischen Völkern zur Selbstbestimmung im eigenen Land zurückzukehren.
2.2 Die Ursachen des neuen Denkens
Das Denken verändert die Menschen, es verändert die Welt und auch den Lauf der Geschichte. Auf keine Epoche der jüdischen Geschichte trifft diese Beobachtung mehr zu als auf die Entdeckung der 'Nation' als sozialer und vor allem politischer Kategorie. Diente das ältere, vorzionistische, jüdische Denken meist der Deutung der conditio judaica, welches die vorfindliche Situation der Juden zu verstehen und ihr Sinn zu geben versuchte, wodurch es natürlich auch stabilisierenden Einfluss auf das Leben des Einzelnen und größerer oder kleinerer Kreise der Gemeinschaft genommen hatte, so hat das neue 'nationale Denken' eine Sprengkraft entfaltet, die den Lauf der jüdischen Geschichte als Ganzes verändert, ja umgekrempelt hat. Das nationale Denken führte das jüdische Selbstverständnis und das darauf bezogene Denken aus einem bald zweitausendjährigen modus interpretandi des status quo zu einer Neubetrachtung der jüdischen Lage, die sich nicht länger nur mit der Deutung der jüdischen Geschichte und des gegebenen jüdischen Daseins begnügte, sondern dazu aufrief, diese Geschichte und dieses Dasein mit eigenen Kräften, wider die inneren und äußeren Ideologien, zu verändern und auf eine neue Grundlage zu stellen.
Der philosophisch und literarisch prononcierteste Autor des neuen Denkens, Achad Haam, alias Ascher Ginzberg, hat dies in seinem epochemachenden ersten zionistischen Aufsatz 'Nicht dies ist der Weg!' von 1892 so formuliert:
'Nach vielen Jahrhunderten der Armut und Niedrigkeit von außen und des blinden Glaubens und der Hoffnung auf die Gnade des Himmels von innen trat in unserem Zeitalter ein neuer, folgenschwerer Gedanke in Erscheinung: den Glauben und die Hoffnung vom Himmel herunterzuholen und sie in lebendige, reale Kräfte umzusetzen; auf die Erde die Hoffnung und auf das Volk den Glauben zu gründen ...'.
Das alte Tabu, dass eine Änderung des jüdischen Schicksals alleine vom Himmel und mittels des Messias zu erhoffen sei, wurde nun aufgegeben. Man sah jetzt die Chancen und Möglichkeiten, selbst in das Schicksal des jüdischen Volkes einzugreifen und zum Besseren zu wenden.
Die grundlegende Veränderung im jüdischen Denken war demnach, dass die tatsächliche Realität des jüdischen Lebens in der Zerstreuung des Exils nun selbst Gegenstand der Betrachtung wurden und nicht mehr den Ausgangspunkt für theologische oder metaphysische Deutungen des Grundes oder der Ursachen des Exils bildeten - die bedrückende conditio judaica also weder als göttliche Strafe für eine Schuld, noch als Auswirkung metaphysischer Ereignisse verstanden wurde. Man wollte Schluss damit machen, mit Hilfe der Theologie die jüdische Situation als einen Preis für die 'Auserwählung' zu betrachten, oder mittels einer Heilsgeschichte beziehungsweise der Hegelschen Geschichtsphilosophie die Juden als Träger einer bestimmten Mission in der Völkerwelt zu sehen, oder gar als Besitzer einer besonderen höheren Erkenntnis. Demgegenüber wurde von den neuen zionistischen Denkern die jüdische Lebenssituation jetzt als solche in ihrer Realität betrachtet und aus dieser Realität zu erklären versucht. Ein wichtiges Instrument dafür war die neu entstandene wissenschaftliche Soziologie, derer sich alle nationalen Denker bewusst oder unbewusst bedienten, allen voran Achad Haam. Diese soziologische Wende hat schon der Jerusalemer Philosoph Nathan Rotenstreich in seiner 1945 erschienenen Darstellung des modernen jüdischen Denkens herausgehoben, indem er dieses moderne Denken von den älteren theologischen Erklärungen des jüdischen Exils abhob:
'die typische erste Besonderheit des Nachdenkens über das Exil ist [nun] die Beschränkung [der Erklärungen] auf die Soziologie. Das moderne nationale Denken beschränkt sich darauf, das Wesen des Exils von seiner nationalen Seite her aufzudecken, auf das, worin es die Lebensrealität der Gesellschaft als Gesellschaft erkennt. [...] es stellt nicht die Frage nach dem ?woher? des Exils, sondern nimmt es als Realität, als die Wirklichkeit des Volkes, in der es sich tatsächlich befindet. Das moderne nationale Denken versucht, diese Wirklichkeit von ihren Wurzeln her zu verstehen, mit dem Ziel, eine Grundlage für veränderndes und verbesserndes gesellschaftliches Handeln zu gewinnen. Das Exil ist demnach so zu beschreiben: Das Exil ist die Entfernung des Volkes von seinem Heimatland, ist die Zerstreuung des Volkes in der weiten Diaspora, ist die Fremdheit des Volkes in seiner gegenwärtigen Umgebung und dessen Verknechtung unter diese. All diese Grundsätze der Definition des Exils sind Elemente aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die keinerlei Bedeutung jenseits von ihnen haben.'
Trotz dieser diametral umgewendeten Neuausrichtung des jüdischen Denkens darf man allerdings nicht den Fehler begehen, zu behaupten, dass hier eine neue soziologische Realität, ein neues Volk, oder eine neue Nation geschaffen, oder gar erfunden worden sei, wie dies unter anderen das unsägliche Buch des israelischen Historikers Shlomo Sand mit seinem reißerischen Titel Die Erfindung des jüdischen Volkes behauptet. Nicht das jüdische Volk ist hier erfunden worden, sondern eine innovative Weise, über die seit Jahrtausenden bestehende Volksgruppe nachzudenken. Diese neue Denkweise, die wie viele neue Denkansätze in allen Bereichen der Kultur und Wissenschaft neue Lösungen für alte Probleme sichtbar machte, die den bisherigen Denkweisen nicht gelungen waren, war also das Novum, nicht das jüdische Volk als solches. Wie schon unzählige Male in der langen Geschichte dieses Volkes - jeder Leser dieser Darstellung des Jüdischen Denkens wird das wahrgenommen haben -, vermochten eine ganze Anzahl von jüdischen Denkern des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, ihr eigenes Philosophieren von den neuesten Debatten der Zeit befruchten zu lassen und so das eigene Schicksal, die Lage ihres Judentums neu und präziser zu verstehen und daraus ihre Schlüsse zu ziehen. Sie haben nicht, ich betone dies ein weiteres Mal, das jüdische Volk neu erfunden, sondern sie haben das vorhandene Volk mit neuen Denkkategorien gesehen und beschrieben. Durch die Definition des Volkes als Nation, Le'om, (auch wenn sie dazu gelegentlich den hebräischen Begriff 'Am, 'Volk', als Synonym für 'Nation' weiter verwendeten), konnten sie die in ihrer Zeit in Europa mit Hilfe dieser nationalen Denkkategorie gewonnenen Einsichten auch auf das Judentum beziehen und die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen wie auch die daraus abzuleitenden politischen Forderungen erheben.
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2015 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Judentum |
Schlagworte | Judentum • Jüdische Geschichte • Jüdische Philosophie • Jüdische Religion • Schoah • Zionismus |
ISBN-10 | 3-593-43230-7 / 3593432307 |
ISBN-13 | 978-3-593-43230-4 / 9783593432304 |
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