Das europäische Alphabet Kyrilliza (eBook)
160 Seiten
Wieser Verlag
978-3-99047-031-2 (ISBN)
Wolf Oschlies, Jahrgang 1941, wuchs in der DDR auf, wo er nach seinen Worten 'eine absolute Seltenheit erlebte': einen guten Russischunterricht. Nachdem er 1959 'in den Westen abgehauen' war, studierte er Slawistik und machte nach Promotion (1966) und Habilitation (1977) drei Berufe daraus: Wissenschaftler in einem Forschungsinstitut der Bundesregierung, Hochschullehrer an der Justus-Liebig-Universität in Gießen und Publizist in Deutschland und darüber hinaus. Seit 2002 ist er im Ruhestand, bleibt aber fleißiger Wieser-Autor mit einem Buch pro Jahr.
Wolf Oschlies, Jahrgang 1941, wuchs in der DDR auf, wo er nach seinen Worten "eine absolute Seltenheit erlebte": einen guten Russischunterricht. Nachdem er 1959 "in den Westen abgehauen" war, studierte er Slawistik und machte nach Promotion (1966) und Habilitation (1977) drei Berufe daraus: Wissenschaftler in einem Forschungsinstitut der Bundesregierung, Hochschullehrer an der Justus-Liebig-Universität in Gießen und Publizist in Deutschland und darüber hinaus. Seit 2002 ist er im Ruhestand, bleibt aber fleißiger Wieser-Autor mit einem Buch pro Jahr.
Einführung
(in historische und politische Nebelfelder)
In Südosteuropa finden sich hundertfach ältere Ikonen und neuere Statuen, die die Gebrüder Kyrill (Konstantin, 826–869) und Method (Michael, 815–885) aus Thessaloniki zeigen. Die beiden wurden am 30. September 1880 von Papst Leo XIII. heiliggesprochen und 1980 (zusammen mit Benedikt von Nursia) von Papst Johannes Paul II. zu Schutzpatronen Europas erhoben. Wobei sich Slawen besonders angesprochen fühlen, auch die Lausitzer Sorben in Deutschland, die noch 60.000 Angehörige zählen. Seit 1862 besteht bei ihnen eine »Towarstwo Cyrila a Metoda (TCM)«, also ein »Cyrill-und-Method-Verein«. Kyrill und Method werden oft als »Slawenapostel« apostrophiert, was aber nach dem polnischen Slawisten Brückner unkorrekt ist: Die Brüder aus Thessaloniki waren keine gott-gesandten Himmelsboten (wie es »Apostel« sind), haben keine Slawen bekehrt und getauft, wohl aber »christliche Slawen gelehrt«, müssen also »Lehrer« genannt werden. Das ist auch so geschehen, wiewohl der Ehrenname »Slawenapostel« weiter in Gebrauch ist (auch in vorliegender Darstellung).
Vor langen Jahren habe ich einmal in einer TV-Sendung gefordert, dass man auch die makedonischen Schüler von Kyrill und Method, Kliment (um 840–916) und Naum (um 830–910) zu europäischen Ehren erheben sollte. Wichtig ist, dass man Kyrill und Method als Begründer slawischer Schriftkultur kennt und weiß, dass ohne Kliment und Naum aus ihrem Werk nicht viel geworden wäre. Was Erstere begannen, haben Letztere vollendet. Kliment und Naum konnten etwas den Geschichtsnebel lichten, der Kyrill und Method versteckt – ungeachtet der rund 10.000 Studien, die bislang über sie verfasst wurden. 1862 stellte der russische (deutschstämmige) Ethnograph und Linguist Aleksandr T. Gil’ferding (1831–1872) einige erhellende Fragen, die bis heute kaum beantwortet sind: »Wann wurde das slawische Alphabet erfunden? Wurde die Kyrilliza von Kyrill erdacht? Welches Verhältnis haben die gegenwärtigen Slawen zu Kyrill und Method?«
Natürlich gibt es nicht wenige aktenkundige Belege zur Existenz der Slawenapostel, bis hin zu Briefen der Päpste Johann VIII. und Stephan V., aber wir kennen kein einziges schriftliches Zeugnis von Kyrill und Method, nicht den kleinsten Autographen aus ihrer Hand. Demgegenüber verfügen wir über mindestens 30 Lehren, Predigten, Hymnen etc., die Kliment namentlich zweifelsfrei zugeordnet werden können, und noch einmal so viele, bei welchen die Experten seit Jahrzehnten um Kliments Urheberschaft streiten. Wenn wir von Naum nichts Vergleichbares haben, dann hat das Gründe politischer Vertraulichkeit, auf die ich weiter unten eingehe.
Alle Ikonen, Statuen etc., die Kyrill und Method mit Schriftrollen in den Händen zeigen, irren zweifach. Zum einen, weil von ihnen (wie erwähnt) nichts Schriftliches überliefert ist, und zum anderen, weil »schreiben« damals vor allem »abschreiben« bedeutete: In den Klöstern gab es Bibliotheken, »Scriptorien«, »Musterbücher« und Vorlagen, die klösterlichen Statuten verpflichteten die Mönche zum Schreiben, wobei die Aufträge von kirchlichen oder weltlichen Autoritäten kamen. Waren Kyrill und Method, Vertraute und Gesandte des Kaisers von Byzanz, solche Schreibknechte? Schließlich ist da noch ein dritter Irrtum, der die Groteske streift: Kyrill und Method werden mit Schriftrollen in kyrillischer Schrift abgebildet, z. B. auf ihrem Denkmal im Innenhof der Skopjer »Universität Kyrill und Method«! Diese Schrift gab es noch gar nicht, denn zu Zeiten der Slawenapostel und von ihnen wurde glagolitisch geschrieben. Kyrillisch wurde erst später »erfunden«.
Meine liebe Mutter hat zeitlebens (sie wurde nur 55 Jahre alt) ein »Familienbuch« geführt, in das sie alles eintrug, was ihr bedeutsam erschien, bis Anfang 1949 in »deutscher« oder »Sütterlin«-Schrift, danach in lateinischer Schrift. Ich erwähne das, um die geminderte Gewichtigkeit wechselnder Alphabete für ein und dieselbe Sprache zu dokumentieren. Natürlich macht es mir einige Mühe, die Eintragungen meiner Mutter in zwei Alphabeten zu lesen, aber selbstverständlich sind sie mir nach einer gewissen Eingewöhnung nicht mehr verschlossen. Glagolitisch und Kyrillisch sind gewiss noch viel weiter voneinander entfernt, aber nicht grundverschieden! Meine hier vorgelegte Studie gilt der Kyrilliza, aber dabei darf ich die Glagoliza nicht übergehen; ich kann es auch gar nicht, da beide Alphabete zuzeiten parallel gebraucht wurden, wie etwa an der »Ohrider Literaturschule« vom 9. bis 12. Jahrhundert zu erkennen ist. Ich mache mir nicht die (irrige) russische Ansicht aus den frühen 1950er Jahren zu eigen, dass es sich um zwei Benennungen für ein und dieselbe Schrift handle und »dass die von Konstantin-Kyrill geschaffene Glagolica früher, noch im 11. Jahrhundert, Kyrilliza genannt worden sei« (Lettenbauer).
Im Januar 2007 wütete mit ungezählten Sachschäden und Personenopfern ein grimmiges Sturmtief über Deutschland, das ein Ignorant (oder Zyniker) unter den Meteorologen mit dem Namen »Kyrill« benannte. Der Namensgeber kann kein Slawe oder Slawist gewesen sein, denn seit über 1.000 Jahren schreiben unsere Nachbarn und Partner in Europa in einer Schrift, die Kyrillisch oder Kyrilliza genannt wird. In der frühen Neuzeit nannte man sie auch »cyrulische Schrift«, eventuell abgeleitet von lateinisch »cirrus« (gekraust, gelockt, gefranst) und auf die verschnörkelten Formen des altslawischen Schrifttums bezogen. Dragoslav Andrić, der geistvolle Sammler und Analytiker serbischer Sondersprachen, behauptete 1975 in einem Wörterbuch, »ćirilica« sei in Serbien ein Synonym für »etwa ganz Simples« oder »für neukomponierte Volksmusik«. Wie das zusammenpasst, wissen die Götter. Bei uns Sterblichen besteht längst Einigkeit, dass Kyrillisch nach Kyrill benannt ist, wobei wir die näheren Umstände dieser Namensgebung nicht kennen, aber sie mit einiger Sicherheit dem Bulgaren-Zaren Simeon zuschreiben können – Details dazu später.
Die Kyrilliza ist die Fortsetzerin bzw. Nachfolgerin der Glagoliza (auf die gleich noch ausführlicher einzugehen ist), und beide Alphabete slawischer Sprachen sind in vielen Details mehr oder minder unaufgeklärt. Sie entstanden in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, also etwa anderthalb Jahrtausende nach dem lateinischen Alphabet. Unter welchen Umständen wurden sie gebildet? Wer hat ihnen ihre Namen gegeben? Generell ist die slawische Schrift ein »Retortenprodukt«, eine »Missionarsschrift«, erdacht zur Niederschrift religiöser Texte in Graphemen, die vollauf zu den Phonemen der slawischen Sprache passten.
Glagoliza und Kyrilliza sind an das griechische Alphabet angelehnt, besonders die Kyrilliza. Von ihren 43 Buchstaben wurden 24 von griechischen Unzialbuchstaben (Majuskeln) abgeleitet, mindestens vier von der Glagoliza übernommen, drei weitere durch Ligaturen gebildet (z. B. I + Є = Ѥ), die restlichen sind Neubildungen. Die ältere Form der Kyrilliza heißt »Ustav«, was »aufrecht stehende Einzelbuchstaben« besagt. Ab dem 14. Jahrhundert bildete sich in Südosteuropa die »Poluustav« (Halbustav), die kleiner und rundlicher war, dazu mit Akzentzeichen, Abbreviaturen etc. versehen, typisch für eine Schriftnorm, die die Basis staatlicher Administration, kirchlicher Lehre, militärischer Kommunikation, literarischer Produktion etc. war.
Seit Frühjahr 2013 steht auf den 5-Euro-Scheinen, seit Juni 2014 auch auf den Zehn-Euro-Scheinen, neben dem lateinischen »EURO« und dem griechischen »EYPW« der slawischkyrillische »EBPO« – gesprochen »Evro« –, womit ein Herzenswunsch der Bulgaren erfüllt wurde, den sie schon unmittelbar nach ihrem EU-Beitritt im Januar 2007 durch ihren damaligen Finanzminister Plamen Orešarski in Brüssel vortragen ließen: Europa ist kulturell erst dann komplett, wenn Kyrillisch EU-offizielle Schriftnorm wird! Ist es das? 2013 brachte die Slowakei eine Zwei-Euro-Münze mit den Abbildern von Kyrill und Method heraus – in lateinischer Beschriftung!
Wer schreibt Kyrillisch? Da sind zunächst die historischen Sprachen, die keine kommunikative Rolle mehr spielen: Altslawisch (Altkirchenslawisch, Altbulgarisch), Rumänisch, Bosnisch (Bosančica). Sodann die slawischen und nichtslawischen Sprachen von Staaten, die Mitglieder in den Vereinten Nationen sind – slawische Sprachen: Belorussisch, Bulgarisch, Makedonisch, Montenegrinisch, Russisch, Serbisch, Ukrainisch, schließlich nichtslawische Sprachen: Kasachisch, Kirgisisch, Mongolisch, Moldavisch, Tadschikisch. Diese Einteilung kann morgen schon obsolet sein, wenn z. B. überfällige Wiedervereinigungen ablaufen, etwa Moldova mit Rumänien (womit das Zwangskonstrukt »moldavische Sprache« in kyrillischer Schrift entfiele), wenn zentralasiatische Länder die Kyrilliza ablegen, weil diese sie zu sehr an Russifizierungs- oder Sowjetisierungsdruck erinnert, was auch...
Erscheint lt. Verlag | 10.1.2017 |
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Verlagsort | Klagenfurt |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Slavistik |
Schlagworte | Alphabet • Bulgarisch • Glagoliza • Kyrilliza • Nichtslawen • Retorten-Schriften • rumänische Moldover • Russisch • Schrift • Schriftnorm • Schriftsystem • Slawen • Slawische Völker |
ISBN-10 | 3-99047-031-0 / 3990470310 |
ISBN-13 | 978-3-99047-031-2 / 9783990470312 |
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