Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Das Paulus-Prinzip

Warum Schwäche ein Gewinn sein kann

(Autor)

Buch | Hardcover
272 Seiten
2015 | 1., Auflage
Francke-Buch (Verlag)
978-3-86827-537-7 (ISBN)
CHF 19,90 inkl. MwSt
Als erfolgsverwöhnter Pastor einer New Yorker Gemeinde baut Scazzero über Jahre hinweg die Fassade eines Superhelden auf, die nicht einmal seine Frau durchschauen kann. Erst als er physisch und psychisch am Ende ist und seine Ehe vor dem Aus steht, fängt Gott neu mit ihm an. Und wie!
In diesem Buch packt Scazzero aus, nimmt seine Leser an die Hand und führt sie ehrlich durch den eigenen Zerbruch. Hin zu den unbezahlbaren Erfahrungen, die allen Menschen in Leitungsfunktionen, allen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern in der Gemeinde helfen können, ihren Dienst für Gott dynamisch und authentisch zu tun. Gehen auch Sie diese ebenso entscheidenden wie erlösenden sieben Schritte mit ihm!

Peter Scazzero erhielt viel Anerkennung für den Aufbau einer großen Gemeinde, in der über 55 Nationen vertreten sind. Sie befindet sich im ethnisch vielfältigsten Stadtviertel von New York. Peter und seine Frau Geri gründeten 1987 New Life Fellowship.

Kapitel 1 Wie die Leiter, so die Gemeinde Die allgemeine Gesundheit jeder Gemeinde und jedes christlichen Werkes hängt in erster Linie von der emotionalen und geistlichen Gesundheit ihrer Leiter ab. Genau genommen hat der Schlüssel zu erfolgreicher geistlicher Leiterschaft viel mehr mit dem inneren Leben des Leiters zu tun als mit seinem Fachwissen, seinen Gaben oder seiner Erfahrung. Ich brauchte lange, um zu erkennen, dass noch ein Leiterschaftsseminar oder mehr Informationen nicht der Schlüssel zu „erfolgreicher“ Gemeindeleitung waren. Genau genommen begann mein Weg nicht mit einem Seminar oder einem Buch, sondern mit einem sehr schmerzhaften Gespräch zu Hause. Meine Frau konnte es nicht mehr ertragen „Pete, ich trete aus der Gemeinde aus“, hatte meine Frau Geri leise gemurmelt. Ich saß regungslos da, zu fassungslos, um zu antworten. „Ich kann diesen Stress nicht mehr ertragen – die ständigen Krisen“, fuhr sie fort. Geri war mehr als geduldig gewesen. Ich hatte ständig Druck und Spannungen von der Gemeinde mit nach Hause gebracht, Jahr für Jahr. Jetzt war die Frau, der ich versprochen hatte, dass ich sie lieben würde, wie Christus die Gemeinde liebt, völlig erschöpft. Wir hatten acht Jahre lang unerbittlichen Stress erlebt. „Ich mache das nicht mehr mit“, schloss sie. „Diese Gemeinde ist kein Leben mehr für mich. Sie ist der Tod.“ Wenn ein Gemeindemitglied sagt: „Ich trete aus“, fühlen sich die meisten Pastoren nicht besonders gut. Wenn es aber die Frau sagt, mit der Sie seit neun Jahren verheiratet sind, wird Ihre Welt auf den Kopf gestellt. Wir waren im Schlafzimmer. Ich erinnere mich noch gut an jenen Tag. „Pete, ich liebe Dich, aber ich verlasse die Gemeinde“, fasste sie alles ruhig zusammen. „Ich respektiere Dich als Leiter nicht mehr.“ Ich war sichtlich erschüttert und wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Ich fühlte mich bloßgestellt, allein und wütend. Ich wurde laut, um sie einzuschüchtern. „Das kommt gar nicht infrage“, bellte ich. „Okay, ich hab also ein paar Fehler gemacht.“ Aber sie fuhr ruhig fort, „So einfach ist das nicht. Du hast nicht den Schneid, um Leiter zu sein – Leuten entgegenzutreten, denen man entgegentreten muss. Du führst nicht. Du hast zu viel Angst, dass Leute die Gemeinde wieder verlassen. Du hast zu viel Angst davor, was andere über dich denken.“ Ich war entrüstet. „Ich komme schon noch dahin!“, brüllte ich und ging in die Defensive. „Ich arbeite daran.“ (Die letzten zwei Jahre lang hatte ich es wirklich versucht, aber irgendwie war ich nicht dazu fähig.) „Gut für dich, aber ich kann nicht mehr warten“, erwiderte sie. Es entstand eine lange, schweigsame Pause. Dann sprach sie die Worte aus, die die Machtverhältnisse in unserer Ehe dauerhaft verschoben: „Pete, ich steige aus.“ Man sagt, dass der mächtigste Mensch der Welt der ist, der nichts zu verlieren hat. Geri hatte nichts mehr zu verlieren. Sie verkümmerte innerlich und ich hatte ihr nicht zugehört oder auf ihre Hilferufe reagiert. Leise fuhr sie fort, „Ich liebe dich, Pete. Aber die Wahrheit ist, ich wäre getrennt von dir glücklicher als mit dir verheiratet. Dann würdest du wenigstens am Wochenende die Kinder nehmen müssen. Dann würdest du vielleicht sogar zuhören!“ „Wie kannst du so etwas sagen?“, beklagte ich mich. „Du sollst das nicht einmal denken.“ Sie war in ihrer Entscheidung ruhig und entschlossen. Ich war wütend. Eine gute christliche Ehefrau, die mit einem Christen (und einem Pastor noch dazu) verheiratet ist, tut so etwas nicht. In diesem Augenblick verstand ich, wie ein Ehemann austicken und die Frau, die er liebt, umbringen kann. Sie hatte sich durchgesetzt. Sie zwang mich zuzuhören. Am liebsten wäre ich gestorben. Ich würde mich tatsächlich ändern müssen! Der Anfang dieses Chaos’ Wie waren wir an diesen Punkt gekommen? Acht Jahre zuvor hatten meine Frau und ich eine Gemeinde gegründet. Unsere Vision war es, eine Gemeinde für die Arbeiterklasse von Queens in New York City zu gründen, aus der Leiter hervorgingen, die weitere Gemeinden in New York City und überall auf der Welt ins Leben rufen. Vielleicht sollte ich richtiger sagen, dass ich eine Vision hatte und Geri mir folgte. Jetzt, vier Kinder später, war sie kampfesmüde und wünschte sich ein Leben und eine Ehe. Mittlerweile stimmte ich ihr zu. Das Problem bestand in meinem Verantwortungsgefühl, die Gemeinde aufzubauen, und zwar für andere Menschen. Ich hatte nur wenig Energie dafür übrig, ein Vater für unsere Kinder zu sein oder mich an Geri zu freuen. Ich hatte sogar noch weniger Energie dafür, das „Leben“ zu genießen, worin auch immer das bestand! Selbst wenn ich körperlich anwesend war, zum Beispiel bei einem Fußballspiel einer unserer Töchter, waren meine Gedanken gewöhnlich auf etwas konzentriert, das mit der Gemeinde zu tun hatte. Ich erinnere mich daran, dass ich mich fragte: Muss ich ein so elendes Leben führen und derart unter Druck stehen, damit andere Menschen Freude an Gott erleben können? Aus Wochen waren Monate geworden. Aus Monaten Jahre. Aus den Jahren war inzwischen beinahe ein Jahrzehnt geworden und die Krise war jetzt auf ihrem Höhepunkt. Die nüchterne Realität war, dass ich während dieser neun Jahre nur wenig Zeit für die Freuden des Vaterseins und der Ehe erübrigt hatte. Ich war zu beschäftigt mit den nicht enden wollenden Anforderungen, die das Pastorenamt in einer Gemeinde mit sich brachte. (Wie sehr mir doch jetzt bewusst ist, dass ich diese Jahre nie zurückbekommen werde!) Jesus beruft uns dazu, selbst zu sterben. „Wenn jemand mir nachfolgen will. muss er sich selbst verleugnen, sein Kreuz auf sich nehmen und mir nachfolgen“ (Markus 8,34). Das Problem bestand darin, dass wir für die falschen Dinge gestorben waren. Wir hatten fälschlicherweise angenommen, dass um des Evangeliums willen zu sterben bedeutete, dass wir tot seien für die Sorge um uns selbst, für Gefühle der Traurigkeit, für Wut, Trauer, Zweifel, Kämpfe, für unsere gesunden Träume und Sehnsüchte und für die Leidenschaften, die wir vor unserer Ehe genossen hatten. Geri war schon immer sehr gern draußen im Freien und sie liebt die Natur. Ihre große Verwandtschaft ist für sie sehr wertvoll. Sie liebt Freizeitaktivitäten und es gefällt ihr, für andere Menschen Gelegenheiten zu schaffen, sich zu amüsieren. Für diese Vergnügungen gab es kaum Zeit. Workaholics für Gott Wir waren sehr beschäftigt für Gott. Unser Leben war ausgefüllt mit Dienst, Arbeit und dem Versuch, andere Menschen zu lieben. Ich erinnere mich daran, wie ich mit meinem Schwager beim Abendbrot saß und er davon sprach, wie viel Spaß es ihm machte, Schiedsrichter und Trainer in der Mädchen-Basketballmannschaft zu sein. „Muss schön sein“, murmelte ich. „Zu schade, dass ich diese Art Freiheit nicht haben kann.“ Ich hatte Gottes Gnade in Jesus Christus sehr tief greifend erlebt, als ich mit neunzehn Jahren Christ wurde. Seine Liebe erfüllte mich mit der Leidenschaft, ihm zu dienen. Mit der Zeit jedoch wurde aus dieser Leidenschaft eine Last. Die nicht enden wollenden Anforderungen der Gemeindegründung in New York City neben der Tatsache, dass ich die emotionalen Dimensionen des geistlichen Lebens vernachlässigte, machten aus meiner Freude langsam eine „Pflicht“. Mein Leben kam aus dem Gleichgewicht und ich begann langsam, die Lüge zu glauben, dass Christus mich umso mehr lieben würde, je mehr ich für ihn litt. Ich fing an, mich schuldig zu fühlen, wenn ich mir zu viel Freizeit nahm und zum Beispiel am Strand meinen Spaß hatte. Mein geistliches Fundament wurde schließlich als das offengelegt, was es war: Holz, Heu und Stroh (1. Korinther 3,10-15). Ich war so viele Jahre lang gehinkt, dass mir das Hinken jetzt normal erschien. Geris mutiger Schritt an jenem kalten Januarabend rettete mich. Gott griff durch Geris Worte „Ich steige aus“ dramatisch ein. Das war wahrscheinlich der liebevollste, mutigste Dienst, den sie mir je erwiesen hat. Er zwang mich, professionelle Hilfe zu suchen, um meine „Berufungskrise“ zu lösen. Unbewusst hoffte ich, dass der Seelsorger Geri den Kopf zurechtrücken würde, damit ich mit meinem Leben und der Gemeinde weitermachen konnte. Ich hatte ja keine Ahnung, was vor mir lag! Gott zwang mich, einen langen, schmerzhaften Blick auf die Wahrheit zu werfen – die Wahrheit über mich selbst, über unsere Ehe, unser Leben, die Gemeinde. Jesus sagte: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Johannes 8,32). Es war entmutigend, mir schließlich und endlich einzugestehen, dass mein intensiver Einsatz in geistlichen Disziplinen keine geistliche Reife in mein Leben gebracht hatte. Warum? Ich ignorierte die emotionalen Komponenten der Jüngerschaft in meinem Leben. Das Leben vor der Krise Ich wuchs in einem Vorort in New Jersey in einer italienischamerikanischen Familie auf, nur knapp zwei Kilometer von den Wolkenkratzern von Manhattan entfernt. Im Jahr 1974 zog ich aus und ging ans College, kam in einen Bibellesekreis auf dem Campus und wurde in meinem zweiten Studienjahr ein Nachfolger von Jesus Christus. Diese Erfahrung schickte mich auf eine geistliche Reise, die während der nächsten sechs Jahre die katholische charismatische Bewegung, eine zweisprachige spanisch-englische Gemeinde, eine protestantische Durchschnitts-Innenstadtgemeinde, eine afroamerikanische Gemeinde, die Pfingstbewegung und den Evangelikalismus umfassen sollte. Nachdem ich ein Jahr lang in einer Highschool Englisch unterrichtet hatte, wurde ich bei der InterVarsity Christian Fellowship, einer bekenntnisübergreifenden Arbeit, die christliche Gruppen an Universitäten und Colleges fördert, angestellt. Ich arbeitete drei Jahre lang an der Rutgers-Universität und anderen Colleges in New Jersey. Dann ging ich zum Postgraduierten-Studium an das theologische Seminar von Princeton und ans Gordon-Conwell-Seminar. Während jener Collegejahre lernte ich eine junge Frau kennen und wir wurden gute Freunde. Diese junge Frau sollte später meine Ehefrau werden. Geri und ich heirateten 1984 und wir gerieten in einen Wirbelwind – uns war nicht einmal klar, dass dieser Wind alles andere als normal war. Nach fünf Monaten Ehe machte ich meinen Abschluss und am nächsten Tag zogen wir nach Costa Rica. Ein Jahr lang studierten wir Spanisch, in Vorbereitung auf unsere Rückkehr nach New York City. Als Geri im achten Monat schwanger war, ging sie zu ihren Eltern zurück. Ich kam zwei Tage vor der Geburt unseres ersten Babys aus Costa Rica wieder zurück. Einen Monat später zogen wir drei nach Queens, New York City. Ich arbeitete ein Jahr lang als Hilfspastor in einer rein spanischen Einwanderergemeinde und lehrte an einem spanischsprachigen Seminar. Das gab uns die Gelegenheit, unsere Spanischkenntnisse zu vervollkommnen und Gottes Willen für unsere Zukunft zu erkennen. In jenem Jahr lernten wir die Welt von zwei Millionen illegalen Einwanderern kennen, die große Städte wie New York bevölkern. Wir freundeten uns mit Menschen an, die vor Todesschwadronen in El Salvador, Drogenkartellen in Kolumbien, dem Bürgerkrieg in Nicaragua und unerbittlicher Armut in Mexiko und der Dominikanischen Republik geflohen waren. Im April 1987 starteten wir den unglückseligen Versuch, eine neue englischsprachige Gemeinde unter Lateinamerikanern der zweiten Generation zu gründen. Unerschrocken hielten wir nach anderen Wegen Ausschau, Gottes Traum für uns zu verfolgen. Der Beginn eines Traums? Endlich, im September 1987, gründeten wir die New Life Fellowship, eine moderne Gemeinde in einem Arbeiterviertel von Queens, in dem vor allem Einwanderer verschiedener ethnischer Herkunft lebten. Von den zweieinhalb Millionen Einwohnern von Queens sind mehr als die Hälfte im Ausland geboren. Im Corona-Elmhurst-Viertel, das direkt an unser Gemeindezentrum grenzt, leben Menschen aus 123 Nationen. Unser erster Gottesdienst begann mit 45 Besuchern. In diesen ersten Jahren wirkte Gott gewaltig. Nach etwas mehr als einem Jahr waren wir auf 160 Leute angewachsen. Am Ende des dritten Jahres fing ich mit einer spanischen Gemeinde an. Am Ende des sechsten Jahres waren 400 Menschen in der englischen Gemeinde sowie weitere 250 in unserer ersten spanischen Gemeinde. Sehr viele dieser Menschen waren durch New Life Christen geworden. Meine Zeit bei InterVarsity Christian Fellowship hatte mir praktische Kenntnisse für den Dienst vermittelt, zum Beispiel wie man einen Bibellesekreis hält, wie man anderen Menschen vom Evangelium erzählt und wie man Fragen beantwortet, die Nichtchristen für gewöhnlich stellen. Meine Ausbildung am Seminar hatte mir das intellektuelle Werkzeug an die Hand gegeben, das ich brauchte – Griechisch, Hebräisch, Kirchengeschichte, systematische Theologie, Hermeneutik und vieles mehr. Unglücklicherweise war ich jedoch nicht darauf vorbereitet, eine Gemeinde in Queens zu gründen. Ich landete postwendend in einem Crashkurs, in dem ich verstehen lernte, was Paulus meinte, als er schrieb, dass das Evangelium nicht mit „überredenden Worten menschlicher Weisheit“ daherkommt, sondern in „Erweisung des Geistes und der Kraft“ (1. Korinther 2,4 LÜ). Während dieser ersten Jahre von New Life lehrte uns Gott viel über Gebet und Fasten, Krankenheilung, die Realität von Dämonen, geistliche Kampfführung, die Gaben des Heiligen Geistes und das Hören von Gottes Stimme. Was ich lernte, gab ich der Gemeinde weiter. Menschen wurden Christen und buchstäblich Hunderte begannen eine persönliche Beziehung zu Jesus. Wir dienten den Armen auf neue, kreative Art und Weise. Wir bildeten Leiter aus, gründeten immer wieder neue Kleingruppen, gaben den Obdachlosen zu essen und riefen neue Gemeinden ins Leben. Aber unter der Oberfläche war nicht „alles gut“, besonders auf der Leiterschaftsebene. Es schien uns, als hätten wir immer zu viel zu tun und zu wenig Zeit dafür. Während es aufregend war, in der Gemeinde zu sein, war es keine Freude, in der Gemeindeleitung zu sein, besonders für meine Frau Geri und mich. Es gab eine große Personal- und Leitungsfluktuation und alles davon schrieben wir letztendlich dem geistlichen Kampf in der Hitze von New York City zu. Vielleicht waren das die natürlichen Wachstumsschmerzen und Nebenwirkungen jedes großen Unternehmens und jeder großen Firma? Aber wir waren keine Firma. Wir waren eine Gemeindefamilie. Allerdings wussten Geri und ich, dass etwas fehlte. Unser Herz schrumpfte. Die Gemeindeleitung fühlte sich wie eine schwere Last an. Wir gewannen die ganze Welt, indem wir an einem großen Werk für Gott arbeiteten, während wir gleichzeitig unsere Seele verloren (siehe Markus 8,36). Etwas lief grundlegend falsch. Ich träumte heimlich vom Ruhestand, dabei war ich erst Mitte dreißig. Trotz ständiger geistlicher Selbsttests – keine Unmoral, keine Unversöhnlichkeit, kein Begehren und so weiter – konnte ich nicht genau feststellen, woher mein Mangel an Freude rührte. Das Fundament meines eigenen Charakters und meiner persönlichen Entwicklung konnte der Gemeinde, die wir aufbauten, nicht standhalten. Es war ein wackeliges Fundament und wartete nur darauf zusammenzubrechen. Der langsame Weg in die Krise Während dieser Zeit fühlte sich Geri mit all der Verantwortung, die sie für unsere vier kleinen Kinder trug, wie eine alleinerziehende Mutter. Sie war das Stadtleben unter Hochdruck leid. Sie war müde von dem Stress, den ich jede Woche von der Gemeinde mit nach Hause brachte. Sie wollte mehr Ehe. Sie wollte mehr Familie. Sie wollte ein richtiges Leben. Der Boden unter unseren Füßen schwand, als sich unsere spanische Gemeinde 1993/94 teilte und Beziehungen bröckelten, die ich für felsenfest gehalten hatte. Gott fing an, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und schob mich immer tiefer in eine Grube. Ich näherte mich dem Boden der Grube und wehrte mich dabei mit Händen und Füßen. Ich glaubte, einen Vorgeschmack auf die Hölle zu bekommen. Und so war es auch, wie sich herausstellte. Ich hatte ja keine Ahnung, dass der Boden der Grube noch zwei Jahre entfernt lag. Das Ereignis, das Gott benutzte, um mich zunächst einmal in die Grube zu stoßen, war der Verrat eines der Hilfspastoren der spanisch-sprachigen Gemeinde. Monatelang hatte ich Gerüchte gehört, dass er unzufrieden sei und New Life Fellowship verlassen wollte, um eine neue Gemeinde zu gründen. Dabei wollte er einen großen Teil der Leute mitnehmen. „Das ist unmöglich“, sagte ich mir immer wieder. „Er ist für mich wie ein Bruder.“ Schließlich kannten wir uns schon seit zehn Jahren. Als ich ihn nach den Gerüchten fragte, leugnete er sie immer kategorisch: „Pedro, nunca“ („Niemals, Peter“). Ich werde nie den Tag vergessen, als ich in den spanischen Nachmittagsgottesdienst ging und zweihundert Leute fehlten. Ich war geschockt. Nur fünfzig Leute waren da. Alle anderen waren mit ihm weggegangen, um eine neue Gemeinde zu gründen. In den nächsten Wochen überschwemmte so etwas wie eine Flutwelle die restlichen Mitglieder dieser Gemeinde. Sie erhielten Telefonanrufe und wurden ermahnt, das Haus Sauls (mich) zu verlassen und in das Haus Davids zu wechseln (das Neue, das Gott gerade tat). Menschen, die ich zu Christus geführt und zu Nachfolgern Jesu gemacht hatte und deren Pastor ich jahrelang gewesen war, waren weg. Viele von ihnen sollte ich nie wiedersehen. Als wir mehr als zwei Jahre später unter vier Augen darüber sprachen, sagte dieser Hilfspastor zu mir: „Du hast versprochen, einen Nachfolger Jesu aus mir zu machen, aber deine Worte haben nichts bedeutet. Du hattest es nicht verdient, diese Menschen zu führen.“ Als die Gemeindespaltung begann, verteidigte ich mich nicht. Ich versuchte, dem Vorbild von Jesus zu folgen und wie ein Lamm zu sein, das zum Schlachten geführt wird (Jesaja 53,7). „Nimm es einfach hin, Pete; Jesus würde das auch tun“, sagte ich mir immer wieder. In Wirklichkeit fühlte ich mich, als hätte ich mich vergewaltigen lassen. Ich nahm die ganze Schuld an der Zerstörung auf mich. Obwohl ich mich betrogen fühlte, lag ein großer Teil des Versagens bei mir. Dieser Hilfspastor klagte zu Recht: Ich war überfordert. Ich war Pastor von zwei schnell wachsenden Gemeinden, einer englischen und einer spanischen, und ich hatte viel zu viel damit zu tun, die Arbeit zu „erledigen“ und Feuerwehr zu spielen. Mir fehlten die Flexibilität und Zeit, mein Versprechen einzulösen, ihm Zeit, Freundschaft und Ausbildung zu schenken. Trotzdem liebte ich ihn wie einen Bruder. Um mit dem Psalmisten zu sprechen, erlebte ich, dass ich bei jemandem, mit dem ich „die Süße der Gemeinschaft“ (Psalm 55,15) erlebt hatte, später entdecken musste, dass er „mich verraten und sein Versprechen gebrochen [hat]“ (Psalm 55,21). Ich glaubte nicht, dass solch ein Verrat in der Gemeinde möglich sei. Wichtiger noch, vielleicht war ich auch fasziniert von seinen Gaben und Fähigkeiten. Die spanische Gemeinde bewunderte seinen dynamischen Führungsstil. Machte es wirklich etwas aus, dass er kein „zerknirschtes, reumütiges Herz“ hatte (Psalm 51,19)? Machte es wirklich etwas aus, dass es ihm in einigen Bereichen an Charakter fehlte? Ja. Das Hauptproblem war, dass mir der Mut und die Reife fehlten, mich ihm entgegenzustellen. Die traurige Wahrheit ist, dass meine „gottgefällige, lammfromme Reaktion“ nur wenig damit zu tun hatte, Jesus nachzuahmen, und viel mehr mit ungelösten Problemen und emotionalem Ballast, den ich aus meiner Vergangenheit mit mir herumtrug. Mein Vorgeschmack auf die Hölle ging tiefer, als die Gemeinde gespalten war. Plötzlich stellte ich fest, dass ich ein Doppelleben führte. Der äußerliche Pete bemühte sich darum, die entmutigten Menschen zu ermutigen, die noch bei New Life waren. „Ist es nicht erstaunlich, wie Gott unsere Sünden benutzt, um sein Reich zu bauen? Jetzt haben wir zwei Gemeinden statt nur einer“, verkündete ich. „Jetzt können noch mehr Menschen zu einer persönlichen Beziehung mit Jesus kommen. Wenn jemand von euch in diese andere Gemeinde gehen möchte, soll Gottes Segen mit ihm sein.“ Ich log. Ich wollte wie Jesus sein (wenigstens wie das Bild von Jesus, das ich mir von ihm machte), selbst wenn es mich umbrachte. Und das tat es auch – es brachte mein inneres Wesen um. Meine Hölle bestand darin, dass ich innerlich tief verwundet und wütend war. Diese Gefühle wichen dem Hass. In meinem Herzen gab es keine Vergebung. Ich war voller Zorn und ich konnte ihn nicht loswerden. Wenn ich allein in meinem Auto saß, löste allein der Gedanke an das, was geschehen war, einen Wutanfall aus, einen Knoten in meinem Magen. Innerhalb von Sekunden folgten dann Flüche, die mir beinahe ungewollt über die Lippen kamen. Mein erster Hilferuf Endlich gestand ich meine Verzweiflung über die Situationen in der Gemeinde und zu Hause ein. „Pastor zu werden war die schlechteste Entscheidung, die ich je getroffen habe“, sagte ich im Gebet zu Gott. Ich suchte verzweifelt nach Hilfe. Schließlich empfahl mir ein guter Freund, der auch Pastor war, einen christlichen Therapeuten. Geri und ich gingen hin. Das war im März 1994. Ich fühlte mich vollkommen gedemütigt. Alles in mir wollte nur weglaufen. Ich fühlte mich wie ein Kind, das ins Büro des Direktors muss. „Eine Therapie ist etwas für verkorkste Menschen“, beschwerte ich mich bei Gott. (Damit sagte ich etwas, das ich heute nicht mehr so sehe.) „Nicht ich. Ich bin nicht verkorkst!“ Nach unserem ersten zweitägigen Treffen stellte der Therapeut drei Dinge fest: 1.) Ich war völlig von der Gemeinde vereinnahmt; 2.) Geri war deprimiert und einsam und 3.) unserer Ehe fehlte die Vertrautheit. Wir wussten nicht so genau, was eheliche Vertrautheit war, also kaufte ich Geri ein Ehebuch. Sollte sie es herausfinden. Ich ging wieder an die Arbeit in der Gemeinde. Innezuhalten und über den Zustand meiner Seele nachzudenken war sowohl beängstigend als auch befreiend. Damals glaubte ich, dass alle meine Probleme von dem Stress und der Unübersichtlichkeit von New York City herrührten. Ich schob die Schuld auf Queens, meinen Beruf, unsere vier kleinen Kinder, Geri, den geistlichen Kampf, andere Leiter, den Mangel an Gebet – sogar auf unser Auto (es war innerhalb von drei Monaten siebenmal aufgebrochen worden). Jedes Mal war ich mir sicher, die Wurzel des Problems erkannt zu haben. Aber das hatte ich nicht. Die Wurzel der Probleme lag in mir. Aber ich konnte – oder wollte – das noch nicht zugeben. Die nächsten zwei Jahre waren von einem langsamen Abstieg in einen Abgrund gekennzeichnet. Es war ein Gefühl, als ob ein unendliches schwarzes Loch mich zu verschlingen drohte. Ich rief Gott um Hilfe an, bat ihn, mich zu verändern. Aber es schien, als hätte Gott den Himmel für meinen Schrei verschlossen, statt darauf zu antworten. Es wurde immer schlimmer. Ich predigte weiterhin jede Woche und war weiterhin der Pastor. Aber mein Vertrauen in meinen wirkungsvollen Führungsstil war durch die Spaltung in der spanischen Gemeinde gründlich erschüttert worden. Ich stellte zusätzliche Mitarbeiter ein und bat sie darum, die Leitung zu übernehmen. Das taten sie auch. Hatte ich nicht jämmerlich versagt? Mit dem Gefühl, dass die neuen Leute es sicherlich besser konnten, ließ ich sie anfangen, die Gemeinde neu aufzubauen. Schon bald kam es mir so vor, als wäre die Gemeinde nicht mehr die Gemeinde mit der ursprünglichen Vision, die wir hatten, als wir sie gründeten. Inzwischen kämpfte ich darum, ehrlich zu sein, wenn ich die Situation anderen gegenüber darstellte. Ich hatte die schreckliche Angewohnheit, die Wahrheit zu beschönigen oder „aufzubereiten“, aus Furcht, dass die Leute ärgerlich werden könnten. (Gott nennt das „lügen“; ich nannte es „Verbreiten von guten Aussichten“.) Ich kämpfte darum, bezüglich meiner Gefühle zu mir selbst ehrlich zu sein, und lauschte besonders auf die Gefühle, die nicht in mein christliches Raster passten, wie zum Beispiel Wut, Verbitterung und Traurigkeit. Ich kämpfte auch darum, anderen gegenüber ehrlich zu sein. Fortschritte machte ich nur langsam und mühsam. Ich rang damit, ob ich wohl dabei war, vom Glauben abzufallen. Die Fragen, die ich stellte, und die Gefühle, die ich empfand, wurden in den meisten christlichen Kreisen, in denen ich in den letzten zwanzig Jahren gelebt hatte, als Tabu betrachtet. Sollte ich nicht in Jesus Christus einen überwältigenden Sieg über all das davontragen (siehe Römer 8,37)? Warum scheint es, als würde sehr viel Krankhaftes durch einen Anstrich von Geistlichkeit übertüncht? Wie kommt es, dass so viele Menschen, die schon lange Christen sind, so verurteilend und kritisch sind? Ich war absolut sicher, dass Gott mich auf einen neuen Weg führte. Aber wo waren alle anderen? Ich kämpfte hin und her. „Wie geht es, Pete?“, fragte dann zum Beispiel ein guter Freund. „Oh, ganz großartig! Ich spüre, dass Gott den harten Boden aufbricht und neuen Samen für die Zukunft aussät“, antwortete ich daraufhin immer optimistisch. Das einzige Problem: Diese Worte waren nur ein sehr kleiner Teil der Wahrheit. Der Gedanke daran, dass andere wütend auf mich sein könnten, ließ mich zurückschrecken und weiterwarten. Ich fürchtete, dass verschiedene Leiter in der Gemeinde gehen würden, wenn ich ihnen sagte, wie ich sie ganz ehrlich wahrnahm – als stolz, unbelehrbar und manchmal unwahrhaftig. Nach der Spaltung der spanischen Gemeinde vor mehr als eineinhalb Jahren war dieser Gedanke für mich zu schmerzhaft, als dass ich ihn hätte ertragen können. Ich zog es vor, zu schweigen und zu hoffen, dass die Gemeindeprobleme von ganz allein verschwinden würden. Das geschah nicht. Ich nahm an Leiterschaftskonferenzen teil, um etwas über geistliche Kampfführung zu lernen und wie man eine ganze Stadt für Gott erreicht. Ich nahm an „Erfrischungstreffen“ in anderen Gemeinden teil. Wenn es einen Weg gab, mehr von Gott in mich aufzusaugen, wollte ich ihn finden. Ich nahm an einer prophetischen Konferenz außerhalb unseres Bundesstaates teil, wo ich eine Reihe ermutigender persönlicher Prophetien erhielt. Ich verstärkte die morgendlichen Gebetstreffen bei New Life. Ich wies die Dämonen ab, die darauf aus waren, mein Leben zu zerstören. Ich studierte die Geschichte von Erweckungen. Ich suchte Rat bei zahlreichen landesweit bekannten Gemeindeleitern. Einer meiner Tagebucheinträge aus jener Zeit fasst zusammen, an welchem Punkt ich mich befand: „Herr, ich kann das verheißene Land am anderen Ufer des Roten Meeres sehen – Ganzheit, eine glückliche Ehe und Familie, Freude am Dienst für dich, ein Leben in der Rolle, die du für mich als Leiter vorgesehen hast – aber ich habe keine Ahnung, wie ich das Rote Meer teilen soll, um dorthin zu gelangen. Hast du eine Ahnung, Gott? Wenn ja, könntest du das Meer bitte teilen?“ Geri verlässt die Gemeinde Ich hatte das Gefühl, persönliche Fortschritte zu machen. Vielleicht war es noch nicht nach außen hin sichtbar, aber es geschah etwas. Wenigstens glaubte ich das. Für Geri war jedoch alles, wie es schon immer in unserer Ehe gewesen war – elend. In der zweiten Januarwoche 1996 sagte mir Geri, dass sie die Gemeinde verlassen wolle. Endlich kam ich an meinem Tiefpunkt an. Ich informierte unsere Ältesten über mein Dilemma. Sie waren einverstanden, dass Geri und ich an einer intensiven Einkehrwoche mit professioneller Beratung teilnahmen. So konnten wir herausfinden, ob wir in der Lage waren, das Problem zu lösen. Am 13. Februar 1996 fuhren wir zu einem christlichen Beratungszentrum. Wir hofften, aus unserer Krise herauszukommen. Ich hoffte auf ein rasches Ende unseres Leides. Wir verbrachten die ganzen fünf Tage mit zwei Seelsorgern. Diese kleine befristete „christliche Gemeinschaft“ war sicher genug für uns, um uns selbst zu gestatten, voreinander unsere verborgenen Gefühle auszusprechen. Was wir nicht erwartet hatten, war ein echtes geistliches Erlebnis mit Gott. Für mich begann es auf sehr seltsame Art und Weise. Geri und ich hatten bis spät in die Nacht miteinander geredet. Ungefähr um zwei Uhr morgens weckte sie mich, stellte sich aufs Bett und zerriss mich mit einigen gewählten Worten in der Luft. Zum ersten Mal sagte sie mir die brutale Wahrheit darüber, was sie mir gegenüber und bezüglich unserer Ehe und Gemeinde fühlte. Eine Brücke fehlt Irgendwie war Geris Explosion, so schmerzhaft sie auch war, eine befreiende Erfahrung für uns beide. Warum? Sie hatte die schwere geistliche Tünche des „Gutseins“ abgestreift, die sie davon abgehalten hatte, sich die Wahrheit über unsere Ehe und unser Leben einzugestehen und sie auszusprechen. Ich hörte zu. Sie hörte zu. Wir betrachteten das Leben und die Ehe unserer Eltern. Ich warf einen ehrlichen Blick auf New Life Fellowship. Die Gemeinde spiegelte meine Herkunftsfamilie auf bezeichnende Art und Weise wider. Die traurige Wirklichkeit, die wir entdeckten, war, dass Jesus nur oberflächlich in die Tiefen unseres Wesens eingedrungen war – obwohl wir schon seit fast zwanzig Jahren Christen waren. Unser Erlebnis, das sich anfänglich wie der Tod anfühlte, stellte sich als der Anfang einer Reise heraus und als die Entdeckung einer Beziehung, die mein Leben, meine Ehe, meine Familie und letzten Endes die Gemeinde verändern sollte. Zum ersten Mal entdeckte ich, dass unsere Herkunftsfamilien auch weiterhin Macht über uns hatten. Wir hatten sie mit unserer Hochzeit verlassen, als wir heirateten, aber irgendwie prägten sie unser Leben noch immer. Paulus lehrt: Sobald ein Mensch zum Glauben an Christus kommt, ist „das Alte. vergangen; siehe, Neues ist geworden“ (2. Korinther 5,17 LÜ). Ich hätte mir nie träumen lassen, dass maßgebliche sündige Verhaltensmuster, die in meiner Familie von Generation zu Generation weitergegeben wurden, immer noch wirksam waren. Da ich daran glaubte, dass die Macht von Christus jeden Fluch brechen konnte, kehrte ich den Gedanken unter den Teppich, dass ich immer noch von einem Zuhause geprägt wurde, das ich vor langer Zeit verlassen hatte. Der Blick in mein Herz deckte verschiedene Arten von Motivationen auf. Ein Teil meiner Leidenschaft galt Gottes Ehre. Andere Teile meiner Persönlichkeit wurden von vielschichtigen Motiven angetrieben, die zu ordnen ich weder die Mittel noch die Zeit hatte. Wir begannen, unter die Oberfläche unseres Lebens und in völlig neue Bereiche zu schauen. In meinen Gebeten sagte ich Gott, dass es mir leidtat. Ich hatte aufrichtig alles, was ich hatte, geben wollen, um Gott und seinem Reich zu dienen. Wer hätte sich je träumen lassen, dass meine Hingabe in solch einer Enttäuschung enden würde? Bei allem, was ich über das Gebet und die Bibel wusste und was ich damit erlebt hatte, war es ein ziemlicher Schock, dass es ganze Schichten in meinem Leben gab, die Gott noch nicht angerührt hatte. Daraus wurde der Same für die sechs Prinzipien, die ich in Kapitel 5 bis 10 vorstellen will. Neue Augen? Nach diesem Durchbruch schien es, als hätte mir Gott neue Augen gegeben, um die Bibel zu lesen. Wahrheiten, die ich nur intellektuell verstand, wurden bald Bestandteil meiner Erlebnisse mit Gott. Ich sah, dass Jesus seine Gefühle in Freiheit ohne Scham und Verlegenheit äußern konnte: Er vergoss Tränen (Lukas 19,41). Er war voller Freude (Lukas 10,21). Er war betrübt (Markus 14,34). Er war zornig (Markus 3,5). Ihn überkam Traurigkeit (Matthäus 26,37). Er war innerlich bewegt (Lukas 7,13). Er zeigte Erstaunen und Verwunderung (Markus 6,6; Lukas 7,9). Er empfand Not (Markus 3,5; Lukas 12,50). Jesus war alles andere als ein emotional tiefgefrorener Messias. Gleichzeitig beobachtete ich, wie Jesus sich von den Erwartungen der Masse, seiner Familie und seiner Jünger distanzieren konnte. Die Beziehung zu seinem himmlischen Vater befreite ihn von dem Druck der Menschen in seiner Umgebung. Er hatte keine Angst davor, sein eigenes, einzigartiges Leben und seinen Auftrag auszuleben, ohne Rücksicht auf die Vorstellungen anderer für sein Leben. Zusammen mit Geri, meiner Partnerin fürs Leben, spürte ich, dass wir einen langen Weg vor uns hatten, sowohl als zwei unabhängige Individuen als auch als Ehepaar. Das Ziel war nicht, die Gemeinde zu verändern, sondern uns zu verändern – oder vielmehr, Gott zu gestatten, uns zu verändern. Doch wir erkannten sofort, dass wir uns auf unerforschtem Terrain befanden, auf einer Reise, die uns weit über die christliche Ausbildung hinausführen würde, die wir in den vorangegangenen zwanzig Jahren erhalten hatten. Wir begaben uns auf eine Fahrt, die nur Gott steuern konnte. Wir wurden weit von dem sicheren Ufer unseres Gottesverständnisses und unserer Beziehungen zu anderen weggeführt. Der starre, enge Kasten, in den wir Gott unwissentlich gesteckt hatten, war geöffnet worden. Ein Teil von uns konnte kaum erwarten zu sehen, was Gott als Nächstes tun würde. Aber ein anderer Teil von uns hatte Angst. Gott wollte ganz eindeutig von uns, dass wir die Tiefen unseres Inneren, die wir erst jetzt entdeckten, seinem Geist öffneten. Es sah aus, als würde das eine schwierige Angelegenheit werden. Zu begreifen, dass emotionale Gesundheit und geistliche Reife untrennbar miteinander verbunden sind, würde ein Prozess sein, ganz wie unsere tägliche Beziehung zu Gott. Jeder einzelne Mensch erlebt vielleicht einen entscheidenden Augenblick, in dem er Jesus als seinen persönlichen Herrn und Retter annimmt, aber bei fast jedem geht dem eine gewisse Zeit voraus, in der Gott an ihm arbeitet. Ebenso waren bei mir über zwei Jahre lang immer wieder Begegnungen nötig, damit Gott mein begrenztes Bild von ihm und dem christlichen Leben „wegkratzen“ konnte. Zu mir sprach Gott durch das Geschenk der Depression, eine unglückliche Ehefrau und ein Leben, das regelmäßig außer Kontrolle geriet. Meine einzige Reaktion auf diese unangenehmen Gegebenheiten war: „Gott, bitte nimm sie so schnell wie möglich weg, damit ich mit deiner Arbeit weitermachen kann!“ Das einzige Problem war, dass ich nicht offen für Gottes Reden oder sein Handeln in meinem Leben war. Mein Denkmuster beinhaltete, dass Gott durch die Bibel, durch Gebet (eine innere Stimme), Predigten, ein prophetisches Wort und manchmal durch die Umstände sprach – aber ganz sicher nicht durch so etwas! Der unerwartete Nutznießer – New Life Fellowship Was Gott in unserem Leben tat, setzte sich unmittelbar in der Gemeinde fort, angefangen bei den Hauptamtlichen, den Ältesten und schließlich dem Rest unserer Gemeindeleitung. Zum ersten Mal begriff ich, was es bedeutete, aus dem eigenen Wesen heraus zu dienen und nicht aus dem eigenen Tun. Meine Entdeckung war ansteckend. Aus uns „menschlichen Tätern“ wurden „menschliche Wesen“. Das Ergebnis wirkte sich ganz langsam, wie Wellen auf einer Wasseroberfläche, auf die ganze Gemeinde aus, und wir haben bewusst die in diesem Buch beschriebenen Prinzipien in unser Gemeindeleben einbezogen. (Siehe gegenüberliegende Grafik.) Juan und Marta An dem Tag, bevor ich meine dreimonatige Auszeit begann, saßen Geri und ich mit Juan und Marta an unserem Küchentisch. Die beiden hatten unter unserem Dienst zu Christus gefunden. Sie waren zu der Zeit Pastoren einer spanischsprachigen Gemeinde bei New Life. In ihren ersten Jahren als Leiter waren Juan und Marta lebhafte, begeisterte Christen. Juan war bei New Life Christ geworden. Jetzt, sieben Jahre später, waren sie erschöpft und fühlten sich schuldig, weil sie ihre beiden Kinder vernachlässigten. Sie waren überfordert mit all dem, was vor ihnen lag – Probleme, Krisen, Ansprüche und die enormen Nöte einer großen Einwanderergemeinde. Seelische Gesundheit zieht konzentrische Kreise Nachdem ich ihnen drei Stunden lang zugehört hatte, schämte ich mich. Juan und Marta waren das Ergebnis unseres Dienstes. Und sie waren genau wie ihre Lehrer! Würde dieses Erbe der hektischen, freudlosen und unausgeglichenen Leiterschaft auf ewig die Art von Frucht sein, die christlicher Dienst hervorbringt? Ich gestand Geri später, dass ein Teil von mir traurig darüber war, dass ich die beiden zu Christus und zum Pastorenberuf geführt hatte. Was für ein schweres Leben voll von unnötigem Leid sie doch jetzt führten! Geri und ich baten sie um Vergebung. Paul Paul fastete und betete regelmäßig. Er arbeitete als Computertechniker in Manhattan und nutzte seinen Urlaub, um an Konferenzen über Gebet und prophetischen Dienst überall im Land teilzunehmen. Bald begann er noch regelmäßiger zu fasten und zu beten. Bei Kleingruppentreffen konnte man ihn seine Bibel lesen sehen, um persönliche Worte von Gott für die Gruppe zu empfangen. Häufig gab er überall und jedem persönliche prophetische Worte weiter – ob man es wollte oder nicht. Jemand musste etwas zu ihm sagen. Aber ganz sicher nicht ich! Was konnte ich schon tun? Ich hatte bereits Schwierigkeiten damit, nur für eine Mahlzeit zu fasten, geschweige denn für längere Zeit! In Wahrheit jedoch war Paul unbelehrbar und herablassend uns gegenüber, die wir nicht so „geistlich“ waren wie er. Ein Teil meines emotionalen Reifungsprozesses bestand darin, mich ihm liebevoll entgegenzustellen. Ich musste ihm sagen, wie es war, mit ihm zusammen zu sein, und ihm als sein Pastor eine ehrliche Rückmeldung geben. Liebevoll sagte ich ihm die Wahrheit über seinen kritiksüchtigen Geist und den Stolz, der aus seinen „Offenbarungen“ triefte. Zumindest versuchte ich es. Bald fühlte er sich von Gott in eine andere Gemeinde geführt. Wie die Leiter. Einigen Wissenschaftlern zufolge suchten die vier Präsidenten vor Lincoln ihr Glück in Kompromissen, sie waren nicht bereit, das schwierige Problem der Sklaverei zwischen den Nord- und den Südstaaten anzugehen. Dann übernahm ein reifer Führer mit einem festen Bewusstsein davon, wer er war, was er glaubte und was er wertschätzte – ungeachtet der Konsequenzen – das Weiße Haus. Die Stärke und Reife seines Charakters und seiner Überzeugungen zwangen die Nation in vielerlei Hinsicht, sich der Realität der abscheulichen Sklaverei entgegenzustellen. Es folgte der Bürgerkrieg. Der Ausgangspunkt für Veränderung in jeder Nation, jeder Gemeinde und jedem Arbeitszweig war schon immer der Leiter: Wie die Leiter, so die Gemeinde. Aber es reicht nicht, dass der Leiter sich ändert. Gott möchte auch andere befreien – ob nun in ihrem ersten oder fünfzigsten Jahr als Christ, ob sie alleinstehend oder verheiratet sind und egal, was ihre Rolle in der Gemeinde ist (neues Mitglied, Leiter oder Pastor). Wenn Sie die harte Arbeit, ein emotional und geistlich reifer Jünger von Jesus Christus zu werden, auf sich nehmen, werden die Auswirkungen davon überall in Ihrer Umgebung zu spüren sein. Die nächsten Kapitel umreißen ein neues Modell dafür, was es heißt, Jesus nachzufolgen, und zwar so, dass Ihre Geschichte dem Plan ähnlicher wird, den Jesus für Ihr Leben hat.

Kapitel 1

Wie die Leiter, so die Gemeinde

Die allgemeine Gesundheit jeder Gemeinde und jedes christlichen Werkes hängt in erster Linie von der emotionalen und geistlichen Gesundheit ihrer Leiter ab. Genau genommen hat der Schlüssel zu erfolgreicher geistlicher Leiterschaft viel mehr mit dem inneren Leben des Leiters zu tun als mit seinem Fachwissen, seinen Gaben oder seiner Erfahrung.
Ich brauchte lange, um zu erkennen, dass noch ein Leiterschaftsseminar oder mehr Informationen nicht der Schlüssel zu "erfolgreicher" Gemeindeleitung waren. Genau genommen begann mein Weg nicht mit einem Seminar oder einem Buch, sondern mit einem sehr schmerzhaften Gespräch zu Hause.

Meine Frau konnte es nicht mehr ertragen
"Pete, ich trete aus der Gemeinde aus", hatte meine Frau Geri leise gemurmelt.
Ich saß regungslos da, zu fassungslos, um zu antworten.
"Ich kann diesen Stress nicht mehr ertragen - die ständigen Krisen", fuhr sie fort.
Geri war mehr als geduldig gewesen. Ich hatte ständig Druck und Spannungen von der Gemeinde mit nach Hause gebracht, Jahr für Jahr. Jetzt war die Frau, der ich versprochen hatte, dass ich sie lieben würde, wie Christus die Gemeinde liebt, völlig erschöpft.
Wir hatten acht Jahre lang unerbittlichen Stress erlebt.
"Ich mache das nicht mehr mit", schloss sie. "Diese Gemeinde ist kein Leben mehr für mich. Sie ist der Tod."
Wenn ein Gemeindemitglied sagt: "Ich trete aus", fühlen sich die meisten Pastoren nicht besonders gut. Wenn es aber die Frau sagt, mit der Sie seit neun Jahren verheiratet sind, wird Ihre Welt auf den Kopf gestellt.
Wir waren im Schlafzimmer. Ich erinnere mich noch gut an jenen Tag.
"Pete, ich liebe Dich, aber ich verlasse die Gemeinde", fasste sie alles ruhig zusammen. "Ich respektiere Dich als Leiter nicht mehr."
Ich war sichtlich erschüttert und wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Ich fühlte mich bloßgestellt, allein und wütend.
Ich wurde laut, um sie einzuschüchtern. "Das kommt gar nicht infrage", bellte ich. "Okay, ich hab also ein paar Fehler gemacht."
Aber sie fuhr ruhig fort, "So einfach ist das nicht. Du hast nicht den Schneid, um Leiter zu sein - Leuten entgegenzutreten, denen man entgegentreten muss. Du führst nicht. Du hast zu viel Angst, dass Leute die Gemeinde wieder verlassen. Du hast zu viel Angst davor, was andere über dich denken."
Ich war entrüstet.
"Ich komme schon noch dahin!", brüllte ich und ging in die Defensive. "Ich arbeite daran." (Die letzten zwei Jahre lang hatte ich es wirklich versucht, aber irgendwie war ich nicht dazu fähig.)
"Gut für dich, aber ich kann nicht mehr warten", erwiderte sie.
Es entstand eine lange, schweigsame Pause. Dann sprach sie die Worte aus, die die Machtverhältnisse in unserer Ehe dauerhaft verschoben: "Pete, ich steige aus."
Man sagt, dass der mächtigste Mensch der Welt der ist, der nichts zu verlieren hat. Geri hatte nichts mehr zu verlieren. Sie verkümmerte innerlich und ich hatte ihr nicht zugehört oder auf ihre Hilferufe reagiert.
Leise fuhr sie fort, "Ich liebe dich, Pete. Aber die Wahrheit ist, ich wäre getrennt von dir glücklicher als mit dir verheiratet. Dann würdest du wenigstens am Wochenende die Kinder nehmen müssen. Dann würdest du vielleicht sogar zuhören!"
"Wie kannst du so etwas sagen?", beklagte ich mich. "Du sollst das nicht einmal denken."
Sie war in ihrer Entscheidung ruhig und entschlossen. Ich war wütend. Eine gute christliche Ehefrau, die mit einem Christen (und einem Pastor noch dazu) verheiratet ist, tut so etwas nicht. In diesem Augenblick verstand ich, wie ein Ehemann austicken und die Frau, die er liebt, umbringen kann.
Sie hatte sich durchgesetzt. Sie zwang mich zuzuhören. Am liebsten wäre ich gestorben. Ich würde mich tatsächlich ändern müssen!

Der Anfang dieses Chaos'
Wie waren wir an diesen Punkt gekommen?
Acht Jahre zuvor hatten meine Frau und ich eine Gemeinde gegründet. Unsere Vision war es, eine Gemeinde für die Arbeiterkl

Erscheint lt. Verlag 16.9.2015
Übersetzer Doris C. Leisering, Jokim Schnoebbe
Sprache deutsch
Original-Titel The Emotionally Healthy Church
Maße 135 x 205 mm
Gewicht 430 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Religion / Theologie Christentum Moraltheologie / Sozialethik
Schlagworte Erfahrungsbericht • Gemeinde • Gemeindeleitung • Gemeindeleitung (Kirche) • Hauptamtlicher Dienst • Kriesenbewältigung • Kriesenbewältigung, Gemeindeleitung, Erfahrungsbericht, Gemeinde, Hauptamtlicher Dienst, Leiterschaft • Leiterschaft
ISBN-10 3-86827-537-1 / 3868275371
ISBN-13 978-3-86827-537-7 / 9783868275377
Zustand Neuware
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Mehr entdecken
aus dem Bereich
Unsere Geschichten mit Gott

von Andrea Karimé

Buch | Hardcover (2024)
Neukirchener Verlag
CHF 24,90
über Auferstehung und Ewiges Leben

von Gerhard Lohfink

Buch | Softcover (2024)
Herder (Verlag)
CHF 33,55