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Der fünfte Hammer (eBook)

Pythagoras und die Disharmonie der Welt
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402065-5 (ISBN)

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Der fünfte Hammer -  Daniel Heller-Roazen
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Was sich der Harmonie der Welt nicht fügen mag Es heißt, dass Pythagoras die Harmonielehre erfand, als er bei einem Schmied den Klang von fünf Hämmern hörte. Vier Hammerschläge konnte er in ein wohlgeordnetes Verhältnis setzen. Der fünfte Hammer jedoch klang dissonant. Pythagoras musste ihn aus seiner Theorie ausschließen. In seiner Studie untersucht der bekannte Philosoph Daniel Heller-Roazen das Konzept der Harmonie in einem weiten Sinn: Seit der Antike dient es als Paradigma für das wissenschaftliche Verstehen der wahrnehmbaren Welt. Doch immer wieder gibt es etwas Dissonantes, das sich gegen die Harmonie wehrt. Von der Musik über Metaphysik, Ästhetik und Astronomie, von Platon bis Kant untersucht ?Der fünfte Hammer?, wie die wissenschaftliche Ordnung der Welt eine Realität suggeriert, die jedoch weder in Noten noch Buchstaben völlig erfasst werden kann. Ein fünfter Hammer klingt hartnäckig durch.

Daniel Heller-Roazen, geboren 1974, ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Princeton University. Er studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Toronto, Baltimore, Venedig und Paris und hat zahlreiche Stipendien für seine Arbeit erhalten. Im Jahr 2010 wurde ihm die Medaille des Collège de France verliehen. Im S. Fischer Verlag ist zuletzt von ihm erschienen »Der fünfte Hammer - Pythagoras und die Disharmonie der Welt« (2015), »Der Feind aller. Der Pirat und das Recht« (2010) sowie die von der Kritik gefeierte Studie »Der innere Sinn. Archäologie eines Gefühls« (2012).

Daniel Heller-Roazen, geboren 1974, ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Princeton University. Er studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Toronto, Baltimore, Venedig und Paris und hat zahlreiche Stipendien für seine Arbeit erhalten. Im Jahr 2010 wurde ihm die Medaille des Collège de France verliehen. Im S. Fischer Verlag ist zuletzt von ihm erschienen »Der fünfte Hammer – Pythagoras und die Disharmonie der Welt« (2015), »Der Feind aller. Der Pirat und das Recht« (2010) sowie die von der Kritik gefeierte Studie »Der innere Sinn. Archäologie eines Gefühls« (2012).

Ein erschreckend gelehrtes, begrifflich anspruchsvolles, überaus komplexes und fesselndes Buch

Dieses dicht argumentierende Buch verdient eingehende Beschäftigung und ist für Astronomen, Mathematiker und Musikhistoriker von Interesse.

Zweites Kapitel Von gemessener Vielheit


Dass Boethius die Entdeckung der Zahlenverhältnisse der Konsonanzen Pythagoras zuschrieb, mag heute merkwürdig erscheinen. Zu seiner Zeit jedoch stand die Wahl des spätantiken Philosophen völlig in Einklang mit der Tradition. Die Pythagoreer waren in der klassischen Welt berühmt für ihre musikalischen und mathematischen Forschungen, und vielen klassischen Quellen zufolge waren die Pythagoreer der Meinung, dass die Eigenschaften des Klangs die Prinzipien der Zahl veranschaulichen. Mehr als tausend Jahre vor Boethius hatte Sokrates in der Politeia auf die Pythagoeer hingewiesen, die nach den arithmetischen Ursachen der hörbaren Konsonanzen gesucht hätten.[16] In dem Abschnitt der Metaphysik, der den Lehren der »sogenannten Pythagoreer« gewidmet ist, schreibt Aristoteles diesen frühen Denkern eine ähnliche Lehre zu. Sie beschäftigten sich, so berichtet der Philosoph,

als erste mit der Mathematik und brachten sie voran. Und da sie in ihr aufwuchsen, meinten sie, ihre Prinzipien seien die Prinzipien aller Dinge. Da unter den mathematischen Gegenständen die Zahlen ihrer Natur nach die ersten sind […] und da sie ferner sahen, dass die Eigenschaften und die Verhältnisse der Harmonien in den Zahlen beschlossen sind, […] nahmen sie an, die Elemente der Zahlen seien die Elemente aller Dinge, und der ganze Himmel sei Harmonie und Zahl.[17]

Ein Fragment, das aus einer verlorenen Abhandlung Über die Pythagoreer von Aristoteles stammen soll, wird deutlicher:

Da sie sich der Mathematik verschrieben hatten und die Genauigkeit ihrer Argumente bewunderten, weil unter den menschlichen Tätigkeiten nur sie allein Beweise zulässt, erkannten sie die Tatsachen der Harmonie und sahen, dass sie auf Zahlen beruhen; […] und sie erachteten die Tatsachen der Mathematik und deren Prinzipien für den allgemeinen Grund aller existierenden Dinge; jeder, der die Natur der existierenden Dinge zu verstehen sucht, sollte daher seine Aufmerksamkeit diesen zuwenden, das heißt den Zahlen und Proportionen, weil sie es sind, durch die alles klar wird.[18]

Klassische Quellen legen nahe, dass Pythagoras im sechsten vorchristlichen Jahrhundert lebte. Es heißt, er sei aus Samos gebürtig und habe Ionien verlassen, um sich etwa um 530 v. Chr. in einer Kolonie Großgriechenlands niederzulassen.[19] Keines seiner Werke, so es sie gab, hat überdauert. Obwohl es Belege für die Präsenz pythagoreischer Lehren in ganz Süditalien vom fünften Jahrhundert an gibt, sind die Texte seiner frühesten Schüler sämtlich verloren. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die Zusammenfassungen der pythagoreischen Lehren, wie sie in der Politeia und in der Metaphysik enthalten sind, weitgehend zutreffen. Die existierende Literatur zu Hippasos von Metapont, dem ersten der in der Tradition genannten Schüler, legt es nahe, dass dieser sowohl Mathematiker als auch eine wichtige Figur auf dem Gebiet der frühen Harmonielehre war.[20] Die ältesten erhaltenen pythagoreischen Texte, die Philolaos von Kroton zugeschrieben werden, zeigen, dass er verschiedene Forschungen ähnlicher Art unternahm, zu denen die Untersuchung der Zahlen und die Theorie der musikalischen Proportionen gehörten. Eines seiner Fragmente behauptet, dass »alle wissbaren Dinge Zahlen enthalten, ohne die nichts gedacht oder gewusst werden könnte«.[21] Philolaos wird den Beweis für dieses Prinzip in den Gesetzmäßigkeiten der Konsonanzen gefunden haben, denn ein Großteil seiner Texte besteht aus arithmetischen Analysen von Intervallen. »Harmonie« (ἁρμονία) war für Philolaos, ebenso wie für Empedokles und Heraklit, der Name eines Prinzips der kosmischen Einheit, das in natürlichen Beziehungen ausgedrückt werden kann.[22] Doch der frühe Pythagoreer scheint diese Beziehungen für numerische gehalten zu haben. Darüber hinaus, so C.H. Kahn, »bestand das eigentümliche Merkmal von Philolaos’ Zahlen darin, dass sie nach Proportionen angeordnet sind, die den drei grundlegenden musikalischen Konsonanzen entsprechen«, also der Oktave, der Quinte und der Quarte.[23] Harmonische Überlegungen scheinen die Ausgangsthese seines sogenannten »Fragments 1« motiviert zu haben: »Die Natur des Kosmos folgt aus der Harmonie zwischen dem Unbegrenzten und dem Begrenzten.«[24]

Philosophen nach Philolaos, die in der Tradition des Pythagoras schrieben, legten der mathematischen Untersuchung der Gesetze der Konsonanz ähnliche Bedeutung bei. Archytas von Tarent, ein Zeitgenosse und angeblicher Freund Platons, erhob die Affinitäten zwischen den Bereichen von Arithmetik und Musik zu einem expliziten Lehrsatz: Die beiden Forschungsbereiche waren für ihn »verschwisterte Disziplinen« (μαθήματα ἀδελφά).[25] Spätere Denker, die sich auf Pythagoras beriefen, sollten an dieses Prinzip erinnern. In den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung, als immer mehr Werke den Anspruch erhoben, die Lehren des Altmeisters von Samos darzulegen, wurde die pythagoreische Behauptung, die Erforschung von Zahl und Klang bilde eine Einheit, zum Gemeinplatz. Als Nikomachos von Gerasa im zweiten Jahrhundert nach Christus seine einflussreichen Handbücher der Arithmetik und Harmonielehre verfasste, scheint an seiner Entscheidung, sie beide als pythagoreisch zu präsentieren, nichts Ungewöhnliches gewesen zu sein. Als dann ein Jahrhundert später Iamblichos von Chalkis sich bemühte, Leben und Lehren des frühgriechischen Denkers aufzuzeichnen, war die Lehre kanonisch geworden. Das dritte Buch seiner Summa pythagorica stellt »Musik« (μουσική) als eine Disziplin dar, die nicht minder mathematisch ist als Arithmetik und Geometrie. Alle drei sind »Glieder einer Kette, die ein einziges Band bildet, wie der verehrungswürdigste Platon sagt«.[26]

Es wäre irrig, aus solchen Tatsachen zu schließen, die antiken Autoren hätten Pythagoras als »Musiker« in irgendeinem heutigen Sinne des Wortes verstanden. Musik scheint den Weisen nicht als instrumentelle Praxis einer Kunst, sondern als Zweig des mathematischen Wissens im Sinne einer zugleich gewissen und notwendigen Erkenntnis interessiert zu haben. Boethius’ De institutione arithmetica ist in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich. Die einleitenden Seiten bieten eine Darstellung der Untersuchungsbereiche, die den Pythagoreern vertraut waren. Wir erfahren, dass »alle Männer von alter Autorität« darin einig seien, die mathematische Erkenntnis als die eigentliche »Weisheit« zu verstehen, nach der die Philosophen streben. Ihrem Wesen nach definiert, ist »Weisheit« nämlich »das Erfassen der Wahrheit der Sachverhalte (res)«, die »ihre eigene, unveränderliche Substanz« besitzen; nämlich dessen, »was weder durch Ausdehnung wächst noch durch Verminderung verringert noch durch Wandel verändert wird, sondern sich selbst immer in dem eigenen Vermögen, gestützt auf die Mittel seiner Natur, bewahrt«.[27] Boethius stellt eine längere Liste solcher Entitäten auf: »Das aber sind Qualitäten, Quantitäten, […] Relationen, Akte, Dispositionen, Orte, Zeiten.« Sie alle sind »unkörperlich« und besitzen eine »unveränderliche Substanz«. Aber sie können »durch Teilhabe am Körper« verändert werden; dann gehen sie, als besondere Seiende, »durch die Berührung mit der wandelbaren Sache in wechselhafte Unbeständigkeit« über. Doch eine Quantität, eine Qualität, eine Relation, ein Akt oder eine Disposition lassen sich auch für sich, als reine Denkobjekte, betrachten. Solche Idealitäten, so erfahren wir, sind am treffendsten als »Seiendes« (essentiae) zu bezeichnen.

Boethius erklärt nun im Folgenden, dass Seiendes von zweierlei Art sei. Das der einen Art »ist kontinuierlich und mit seinen Teilen verbunden und nicht durch irgendwelche Grenzen eingeteilt, wie Baum, Stein und alle Körper dieser Welt«. Solche Kontinuitäten, erklärt er, könnten »im eigentlichen Sinne Größen (magnitudines) genannt werden«.[28] Das Seiende der anderen Art »ist diskret von sich her und abgegrenzt aufgrund seiner Teile und gleichsam wie ein Haufen zu einer Schar versammelt, wie Herde, Volk, Chor, Haufen und alles, dessen Teile von den eigenen Enden begrenzt werden und die von der Grenze eines anderen [sc. Teiles] unterschieden sind. Diese haben die spezifische Bezeichnung Vielheit (multitudo)[29] Kontinuierliches Seiendes ist unbegrenzt teilbar. »Größe beginnt bei einer begrenzten Quantität«, erläutert Boethius, »und erhält bei der Teilung kein Maß (modus), denn sie nimmt völlig unendliche Teilungen ihres Körpers auf.«[30] Linie, Kreis oder Pyramide zum Beispiel können in ihrer Größe unbegrenzt reduziert werden; trotz beliebiger Verringerung ihrer Ausdehnung werden sie ihre Identität behalten. Diskontinuierliches Seiendes wiederum kann unbegrenzt vergrößert werden, so »dass das ganze Vermögen der Vielheit von einer Grenze fortschreitet und zu einer unendlichen Vergrößerung des Fortschreitens hin wächst«. Die Schafherde, das Volk, der Chor zum Beispiel mögen sich alle an Zahl vermehren; als Anzahl diskreter Elemente jedoch kann diese Addition von Einheiten an ihrem Sein nichts ändern.

Diesem Gegensatz zwischen dem Kontinuierlichen und dem Diskontinuierlichen, zwischen Größe und Vielheit, fügt Boethius eine weitere Unterscheidung hinzu, die die Art der gedanklichen Erfassung jedes...

Erscheint lt. Verlag 23.10.2014
Übersetzer Horst Brühmann
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte Aristoteles • Arithmetik • Boethius • Disproportion • Geometrie • Gioseffo Zarlino • Giovanni Battista Benedetti • Harmonielehre • Immanuel Kant • Inkommensurabilität • Intervall • Isaac Beeckman • Johannes Kepler • Kant • Kepler • Klang • Konsonanz • Mathematik • Nicole Oresme • Oktave • Proportion • Quarte • Quinte • Sachbuch • Ton • Vincenzo Galilei • Zarlino
ISBN-10 3-10-402065-5 / 3104020655
ISBN-13 978-3-10-402065-5 / 9783104020655
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