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DIE WEIBLICHE MACHT Venedig hat schon immer den Männern gehört. Sie haben schließlich etwas dafür getan, nicht nur Kriege geführt, Entdeckungsreisen unternommen und Handel getrieben. Die Männer von Venedig haben die Einkommensteuer erfunden, die Ausgabe von Staatsaktien erdacht, die Statistik entwickelt, ein Spitzelsystem aufgebaut, die staatliche Bücherzensur eingeführt und die Diffamierung einer Glaubensgemeinschaft institutionalisiert, indem sie das Ghetto einrichteten. Das Image Venedigs war den Männern von jeher eine Herzensangelegenheit. Rastlos arbeiteten sie daran, dass die Gefängnisse der Stadt den Ruf genossen, die schrecklichsten der Welt zu sein. Mutig riskierten sie jede Straftat, um ihre Stadt schöner zu machen. Sie stahlen in Tiryns Schiffsladungen von Reliquien zusammen, plünderten Konstantinopel für die Inneneinrichtung von San Marco, raubten den Assyrern jenen Bronzelöwen, der vor der Kirche steht, den Griechen die Marmorlöwen, die vor dem Portal des Arsenale so attraktiv ausschauen, und den Syrern die Granitsäule, die sich auf dem Molo so gut macht. Sie entführten aus Alexandrien den Leichnam von San Marco, raubten in Jaffa die Gebeine von San Niccolò, dem Schutzheiligen der Seeleute, und stahlen auf Chios die Überreste von San Isidoro. Immer wieder haben die Männer von Venedig ihre Stadt mit ihrer Kreativität bereichert. So hatten sie früh die Idee, Menschen über einem Becken mit brennenden Kohlen zu blenden, haben ein sicheres System gefunden, um die Leute in den Spielcasinos abzukassieren, und sorgten für Unterhaltung, wie öffentliche Tierhatzen und Hinrichtungen auf dem Markusplatz, sowie für gewisse Annehmlichkeiten im Sommer - etwa wenn sie bei Festen blonde, rosige junge Männer an den Fenstern zum Kanal aufstellten, die vorn mit einer Livree bekleidet, hinten jedoch nackt waren, um als lebende Leimstreifen der Mückenplage abzuhelfen. Nebenher fanden die venezianischen Männer auch noch Zeit, ihre Frauen zu betrügen, die Gattin oder Geliebte zu erdolchen und sich gegenseitig mit abgefeimten Intrigen zu bekämpfen. Venedig hat schon immer den Männern gehört, den einheimischen wie den fremden. Sie haben die Rialtobrücke zur Wallstreet des Mittelalters gemacht und die Fenster beim Ponte delle Tette zum Schaufenster der Prostituierten erklärt, die hier ihre nackten Brüste zeigen durften. Männer haben die Grenzen gezogen, die Gesetze erdacht, die Verbote und die Strafen. Aber die Männer von Venedig hatten Stil. Deshalb haben sie ihre Raffgier, ihre Grausamkeit und Machtbesessenheit kaschiert mit Kunst, übertönt mit Musik, verborgen hinter schönen Worten und prächtigen Fassaden. Zur Heldin Venedigs wurde Giustina Rossi, als sie im Jahr 1310 den Anführer eines Aufstandes unter ihrem Balkon erschlug. Ob mittels eines Blumentopfes oder eines Steinmörsers, den sie hinunterfallen ließ, ist umstritten. Für die zweite Variante entschied sich der Bildhauer, der zur Erinnerung an Giustina Rossi diese "Alte mit dem Mörser" schuf, die am Anfang der Merceria zu finden ist. Schon immer war diese Stadt der Männer aber auch berühmt für ihre Frauen. Reiche Reisende, Engländer auf der grand tour oder Bildungshungrige wie Goethe, berichteten von ihren Erlebnissen mit Venezianerinnen, für deren Reize sogar der homosexuelle Dürer Sinn hatte, der eine von ihnen so betörend porträtierte, dass sie jahrzehntelang immerhin eines Fünf-Mark- Scheins würdig war. Poeten besangen derart salbungsvoll den Schmelz der armen Fischermädchen und Spitzenklöpplerinnen, dass ihnen selbst die Tränen kamen. Große Maler von den drei Bellini bis zu Tizian, von Giorgione bis Guardi, von Tintoretto bis Tiepolo, haben die Schönheit der venezianischen Frauen verewigt, gerne in Gestalt von Göttinnen oder Heiligen, und haben sie auf Altartafeln und Deckengemälden gen Himmel schweben lassen. Komponisten von Monteverdi bis Vivaldi haben in ihren Opern Frauen als Heldinnen auftreten lassen, die sie bis zum Bühnenausgang sein durften. Es scheint so, als sei in Venedig die Welt in Ordnung gewesen, weil die Frauen ihrem naturgegebenen Zweck dienten, also der Unterhaltung, der künstlerischen Anregung oder der Bedienung der Männer. Manchen Touristen aus England fiel es jedoch unangenehm auf, dass die Frauen der oberen, also ihrer eigenen Kreise in der Öffentlichkeit unsichtbar waren, und was sie über ihr verborgenes Dasein berichten, hört sich an, als beschrieben sie islamistische Verhältnisse: "Ein Ehemann nimmt sich eine adlige Gemahlin nur mit dem Ziel, Kinder von ihr zu bekommen, und kümmert sich wenig darum, ob ihm ihre Person gefällt, denn er ist frei, seine Begierden mit fremden Frauen zu befriedigen, während seine arme Frau allein zu Hause sitzt, eingeschlossen und bewacht von alten Frauen, ohne die Freiheit, aus dem Fenster zu schauen, besonders, wenn es zur Straße geht. Und wenn sie zur Kirche gehen (eine Freiheit, die ihnen nur selten gewährt wird), sind ihre Gesichter mit einem Schleier bedeckt, und sie werden von den alten Frauen, ihren Bewacherinnen, begleitet." Das notierte empört der Engländer Fynes Moryson, der in den 1590er Jahren einen längeren Venedig-Urlaub eingelegt hatte und dessen Bedarf an Weiblichkeit offenbar durch den Anblick von Putzfrauen, Handwerkergattinnen, Wäscherinnen und Prostituierten auf der Straße nicht befriedigt worden war. Es scheint zwar so, als habe es immerhin eine überall sichtbare, wirklich mächtige Frau in der Stadt gegeben, vor der auch die Männer in die Knie gingen, weil sie angeblich imstande war, die Stadt von Seuchen wie der Pest zu befreien, und der sie insgesamt zwanzig Großbauten in der Stadt widmeten: Neunzehn bedeutende Kirchen Venedigs sind der Muttergottes als Santa Maria, eine ist ihr als Madonna geweiht. Doch auch da blitzt Respektlosigkeit im Umgang mit der Frau auf. Ein Gotteshaus Santa Maria Formosa zu widmen, zu Deutsch: Maria, der Fettleibigen, zeugt nicht von frommer Demut. Und das alles unter dem Vorwand, Bischof Magnus von Oderzo, der für diese Kirche den Bauauftrag erteilte, habe behauptet, die Muttergottes sei ihm in Gestalt einer dicken Matrone erschienen. Woher also nimmt ein Autor das Recht, ausgerechnet Venedig zur Città delle donne, zur Stadt der Frauen zu erklären? Wo finden sich denn Hinweise, dass sie irgendeine nennenswerte Bedeutung besessen hätten? In Venedig, der Stadt des Geldes, überzeugen finanzielle Argumente am besten: Wenn einem Venezianer auf Lebenszeit sämtliche Steuerzahlungen erlassen wurden und seinen Nachfahren auf unbefristete Zeit auch, dann muss das eine Person von Bedeutung gewesen sein. In den Genuss dieses Privilegs kamen für fast fünfhundert Jahre, bis zum Ende der Republik, die Nachfahren der Giustina Rossi. Sie hatte am 15. Juni 1310 einen Putsch niedergeschlagen, den Männer aus den Familien Querini, Badoer und Tiepolo angezettelt hatten. Sie schlug ihn mittels eines Marmorblumentopfes - manche behaupten, eines Steinmörsers - nieder, der von ihrem Balkon herabstürzte, als darunter gerade der Anführer des Aufstandes, Bajamonte Tiepolo, vor einem der in Venedig üblichen jähen Sommergewitter Schutz suchte. Mit ihm wurde das Banner und wohl auch die Hoffnung seiner Kumpane begraben, denn die warfen ihre Waffen von sich und rannten heim zu mamma.* Doch auch wenn Giustina "die Gerechte" heißt, war es wohl weniger ihr Unrechtsempfinden als ein Zufall, mit dem sie das schwache Herz der Revolution getroffen hatte. Bis die Frauen in Venedig wirklich frech wurden, dauerte es nämlich noch mehr als 250 Jahre. Dass eine der ersten, die sich behaupteten, eine Kurtisane war, ist bezeichnend. Denn ihr Berufsstand war es, der das Leben der venezianischen Frauen zum Beispiel für die französischen begehrenswert erscheinen ließ. Zumindest, wenn wir Pierre Bourdeille de Brântome glauben, der als frommer Abbé de Brântome ein Abenteurerleben führte. 1540 geboren, erlebt er in Venedig, was er in seinem erst posthum erschienenen erotischen Klassiker Das Leben der galanten Damen eben jenen in den Mund legt: "Ach, gäbe Gott", seufzen sie, "wir hätten alle unser Geld nach Venedig transferiert und könnten dort jenes angenehme und glückliche Kurtisanenleben führen, dem kein anderes gleichkommt, und wären wir auch Kaiserinnen des Jahrhunderts." Die selbstbewussten Kurtisanen vor Ort - allerdings nur die aus der obersten Kategorie wie zum Beispiel Veronica Franco - machten manche Frauen aufmüpfig. Aber für einen Widerstand, der aus dem Kopf kam, nicht aus dem Bauch, sorgte eine Frau, die meist als Französin betrachtet wird, weil sie in Frankreich aufwuchs und auf Französisch schrieb, aber gebürtige Venezianerin war: Christine de Pizan alias Cristiane Pisan. Schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts hatte Christine de Pizan, die erste hauptberufliche Schriftstellerin, ihre Utopie von einer Stadt der Frauen veröffentlicht in Le livre de la cité des dames. Wie sie jenes System beschrieb, in dem nicht ein König, sondern eine Königin regierte, in dem Frauen, nicht Männer, den Ton angaben, machte Furore und schließlich auch den venezianischen Frauen Mut. Und irgendwann waren sie nicht mehr zu halten. Die Verdienste der Männer sind in Venedig offensichtlich: Hier ein Blick vom Dogenpalast hinüber auf die Klosterinsel San Giorgio Maggiore mit Andrea Palladios eindrucksvollem Kirchenbau aus dem 16. Jahrhundert. Die "Verdienste der Frauen" rühmte die Venezianerin Moderata Fonte. "Ihr, die ihr nicht weniger verleumderisch als bösartig seid", beschimpfte 1645 eine Venezianerin die Männer der Stadt. "Ihr wisst also die Qualitäten des weiblichen Geistes nicht zu schätzen. Ihr haltet die Frauen in Zimmern eingeschlossen, verwehrt ihnen, zu studieren und Lehrer zu haben. Und wenn ihr sie mit einer Feder in der Hand seht, schreit ihr sie sofort an und befehlt ihnen unter Androhung sogar des Todes, das Schreiben zu lassen und sich mit weiblichen Arbeiten zu befassen, mit Nadel und Spinnrocken." Die Dame, die solche Schmähungen in Buchform unter dem Titel La semplicità ingannata, "Die gutgläubige Einfalt", herausgab, war Arcangela Tarabotti, Nonne von Beruf. Damit war sie aber keineswegs eine Emanze der ersten Stunde in Venedig. Schon Jahrzehnte davor hatte die fünffache Mutter Modesta dal Pozzo de' Zorzi, vorsichtshalber unter dem Pseudonym Moderata Fönte, ein Werk verfasst, das sie angeblich am Tag vor ihrem Tod mit 37 Jahren vollendete: Il Merito delle Donne - "Das Verdienst der Frauen". Unmissverständlich der Untertitel: "Warum Frauen würdiger und vollkommener sind als Männer". Wer heute nach Venedig reist, weiß meistens nichts von den Frauen, die gekämpft und oft auch gesiegt haben. Zumal ihre Spuren oft mit verdächtiger Gründlichkeit vernichtet wurden; wie die der Isabella Cortese, Autorin eines Bestsellers im 16. Jahrhundert, der unter dem Titel Secreti Geheimnisse und Erkenntnisse aus der Heilkunde und der Kosmetik verriet bis hin zu Potenzmitteln. Allein dass Isabella ihre Rezepte und Tinkturen in einem eigenen Laboratorium entwickelt hatte, machte sie den Männern so unheimlich, dass sie von ihr nichts als das gedruckte Werk übrig ließen. Es ist mühsam, die Wege der Frauen heute noch nachzuvollziehen, von wenigen prominenten Ausnahmen abgesehen. Keine Gedenktafeln zieren die Häuser, in denen sie wohnten, kein Guide verzeichnet ihre Geburtshäuser. Wer will heute, wo die Lizenzen für Gondoliere mit schöner Selbstverständlichkeit nur unter Männern vergeben werden, denn daran erinnert werden, dass die Frauen früher das Ruder am besten im Griff hatten, einfach weil sie am meisten in Übung waren? Viele von ihnen kamen täglich von den Inseln in die Stadt, um ihre Früchte, Gemüse und Fische auf dem Markt anzubieten. Selbstverständlich gab es vom 14. bis ins 18. Jahrhundert eine Regatta delle donne. Und kein Mann hat offenbar jemals den Rekord der Maria Boscolo gebrochen, die viermal nacheinander das Wettrudern gewann.** Wozu mühsam solche Erinnerungen ausgraben? Es ist doch viel bequemer, sich im Regal der venezianischen Geschichte aus der ersten Reihe zu bedienen: Warum in einer Stadt, in der Maler wie Tintoretto, Veronese, Tizian, Tiepolo, Canaletto, Longhi, Guardi und Musiker wie Monteverdi, Cavalli, Caldara, Marcello, Gabrieli, Albinoni, Corelli, Vivaldi, Cimarosa gewirkt haben, nach der Porträtistin Rosalba Carriera oder der Komponistin Barbara Caterina Strozzi suchen? Wir alle haben uns daran gewöhnt, dass das Interesse immer auf Seiten der Männer ist. Wir bemitleiden Wagner, der hier starb, aber nicht seine trauernde Witwe. Wir wollen alles über Gabriele D'Annunzios Auftritte in der Stadt wissen, nur nichts darüber, was er hier anstellte mit Eleonora Duse. Betrachten wir Venedig jedoch auch einmal aus dem Blickwinkel der Frauen, derer, die hier lebten, und derer, die hier gastierten, so eröffnen sich uns ganz andere Dimensionen. Historische, psychologische, topographische. Wer sich einlässt auf den Gedanken, Venedig zu verstehen als eine Stadt der Frauen, begeht neue Wege. Wohin sie führen, bleibt in Venedig immer offen. Wer einen Einheimischen fragt, wie er in diesem steinernen Irrgarten an sein Ziel komme, erfährt auch heute nur eins: sempre diritto - immer geradeaus.
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