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VORWORT



Vor drei Jahren brach ich zu meiner ersten Expedition in das Eis von Spitzbergen auf. Damals, nach Beendigung meiner Präsidentschaft an der Technischen Universität Hamburg-Marburg, wollte ich etwas völlig anderes beginnen. Ich nahm mir vor, die bis dahin gänzlich neue Hypothese, dass das erste Leben auf der Urerde vor vier Milliarden Jahren im Eis der Meere entstanden sein könnte, durch Messungen und Experimente zu bekräftigen. Dazu ließ ich mich mit dem als ein kleines Labor eingerichteten Segelschiff Mesuf im Eis am Nordrand von Spitzbergen in Mushamna einfrieren. Ein ganzes Jahr lang studierte ich das Meereis, seine MikroStruktur und die im Eis ablaufenden dynamischen Vorgänge. Allein, nur in Begleitung von zwei Schlittenhunden, konnte ich überraschende Beobachtungen machen, mich mit Eisbären anfreunden und während der viermonatigen Polarnacht die Nordlichter bewundern. Dann segelte ich zurück nach Hamburg und war glücklich, der eisigen Einsamkeit mit vielen Ergebnissen heil und gesund entkommen zu sein.

"Ach, wäre ich doch wieder raus aus dem Eis und auf der Heimfahrt ...", so lese ich heute in meinem alten Tagebuch. Wo aber ist inzwischen meine Heimat? An der Universität, in der Gemeinschaft von etablierten Wissenschaftlern, die von einer wichtigen Besprechung zur nächsten eilen, Forschungsgelder beantragen und zwischendurch Verwaltungsarbeiten erledigen müssen? Oder ist die Heimat in der Nähe meiner Familie? Meine Kinder sind längst der elterlichen Obhut entwachsen. Sie stehen mitten im Leben und haben ihre vielen eigenen Kinder. Oder aber - und ich ahne, dass dies so ist - habe ich inzwischen tiefe heimatliche Gefühle für das so abweisende, eisige Spitzbergen entwickelt?

Das für normale Menschen selbstverständliche Bedürfnis nach Komfort, einer warmen Dusche, gutem Essen und Sicherheit, nach Fernsehen, Kino, Theater und der Gesellschaft von anderen ist mir irgendwie abhanden gekommen. Und nun stehe ich etwas verwundert, leer und manchmal auch einsam da und fühle mich fast wie ein Spielverderber.

Aber das will ich nicht! Ich will anderen etwas geben, vielleicht auch ein wenig den Blickwinkel aufweiten. Ich spüre ganz deutlich, da ist noch etwas im Eis von Spitzbergen, das sich zu suchen lohnt. Wertvoll nicht nur für mich, sondern vielleicht auch für andere Menschen. Denen möchte ich erzählen, was ich gesucht und gefunden habe.

Nach meiner Rückkehr aus Mushamna habe ich Vorträge gehalten und mit Fachleuten Diskussionen über meine Beobachtungen im Eis geführt. Dabei bin ich auf Interesse und Zustimmung, aber auch auf Kritik gestoßen.

Es haben sich viele interessante neue Gesichtspunkte zur Hypothese über die Entstehung und die heutige Existenz von primitiven Lebensformen im Eis ergeben, und spannende Vorschläge über weitere mögliche Experimente im Eis von Spitzbergen wurden diskutiert. Mir wurde deutlich: Ich darf nicht auf halbem Weg stehen bleiben, ich will und muss weitermachen. Daraus hat sich ein Forschungsprogramm entwickelt, das mich erneut zu einer einjährigen Expedition nach Spitzbergen verschlagen wird. Diesmal allerdings werde ich nicht mein Segelschiff als Forschungslabor nutzen, sondern eine alte Hütte auf Nordaustland. Nordaustland ist eine öde, seit vielen Jahrzehnten unbewohnte, zumeist ganzjährig vom Eis eingeschlossene Insel nordöstlich von Spitzbergen. Wegen der besonderen Eisverhältnisse ist Nordaustland als gewaltiges Labor für die Durchführung der geplanten Forschungsarbeiten hervorragend geeignet.

Ich will während dieser Expedition nicht nur das Eis und die darin lebenden Mikroorganismen studieren. Eigentlich erhoffe ich mir mehr. Ich möchte den Prinzipien und Formen des Zusammenlebens verschiedener Wesen nachspüren. Wie funktioniert das Leben unter den auf Nordaustland herrschenden extremen Bedingungen? Wie überleben dort einfache Wesen - etwa kleine Krebse - oder aber auch große, mächtige Tiere wie die Walrosse? Was unterscheidet uns Menschen von Eisbären, wenn wir in der eisigen Polarnacht ums Überleben kämpfen? Sind die Unterschiede überhaupt noch gegeben, wenn elementare Bedürfhisse und Gefühle von zivilisatorischen und kulturellen Beigaben entblättert sind?

Auf Nordaustland haben vor mehr als hundert Jahren Jäger und Fallensteller gehaust. Einige sind dabei auch umgekommen. Forscher aus unterschiedlichen Ländern haben hier kurzzeitig gearbeitet und versucht, neue Entdeckungen zu machen. Spuren dieser Menschen möchte ich finden. Was kann ich daraus lernen?

Der Mensch ist ein soziales Wesen und kein Einzelgänger. Während meiner absoluten Einsamkeit in Mushamna vor drei Jahren habe ich das schmerzlich und bewusst erleben dürfen. Diesmal möchte ich meine Eindrücke und Erlebnisse während der Expedition mit einem Mitmenschen teilen. Ich möchte mich streiten, Kompromisse machen, mich gemeinsam fürchten, freuen und zusammen das Jahr in der eisigen Isolation überleben - und zwar mit einer Frau. Ob das wohl gut geht?