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VORWORT Ich freue mich, dass Die Tränenfrau nun Bekanntschaft mit Lesern aus aller Welt schließen kann. Die Geschichte der treuen Meng (eigentlich: Mengjiangnü), die mit ihren Tränen die Große Mauer zum Einsturz bringt, erzählt man sich in China seit rund 2000 Jahren. Es ist ein Mythos, der vom Volk fürs Volk weitererzählt wurde - nun erfreulicherweise auch über die Landesgrenzen hinaus. In gewissem Sinne ist der Mythos eine Wirklichkeit, die in den Lüften kreist, aber vielleicht behält selbst eine derart schwebende Wirklichkeit noch ihre Schwere. Dennoch bedeutet eine solche vorübergehende Loslösung von der normalen Wirklichkeit eine Befreiung, die beglückend ist und die wir alle brauchen. Die prächtigste und zügelloseste Phantasie findet sich oft im Volk. Meine Arbeit an diesem Buch war wesentlich von der Absicht bestimmt, ein volkstümliches Gefühlsleben wieder heraufzubeschwören, wie es sich meiner Meinung nach in einer volkstümlichen Philosophie niedergeschlagen hat. Der Schreibprozess bedeutete für mich auch eine Erkundung dieser Philosophie. Die gesamte Welt der Imagination ist beim Menschen Ausdruck und Ausgestaltung seiner jeweiligen Gefühle. Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, darüber lehrt uns - innerhalb wie außerhalb unseres gewöhnlichen Lebens - der Mythos seine ganz eigene Denkweise: Indem wir in ihm mit unbändigem Drang die Grenzen unseres Lebens überwinden, gewinnt unsere Existenz eine außerordentliche Freiheit. Den Schöpfern der Mythen erschien die Welt in klaren, anheimelnden Konturen; für Geburt und Tod, Kommen und Gehen der Menschen gab es einfache, elementare Erklärungen, und so ließ sich auch für jedes bittere, drückende reale Problem leicht eine Lösung finden. Die Geschichte der treuen Meng, einer Frau, die mit ihren Tränen die Große Mauer zum Einsturz bringt, ist weniger eine traurige als vielmehr eine optimistische Geschichte. Und sie erzählt weniger von einer Frau, die mit ihren Tränen ihre endlos lange Odyssee auf der Suche nach ihrem Mann beendet, als vielmehr von einer Frau, die sich mit ihren Tränen aus einer ungeheuren Bedrängnis befreit. Eine solche Geschichte, die jeder kennt, neu zu erzählen, stellt einen Autor unausweichlich vor ein großes Problem. Ein jeder trägt in seinem Herzen eine eigene Meng. Die Meng, wie ich sie verstehe, ist vor allem eine Frau - eine Frau, die reinen Herzens ist und die in mir lang vergessene Gefühle weckt; und in ihrem Schicksal, so wie ich es verstehe, drückt sich im Grunde das Leiden, ja, das Wesen der Existenz überhaupt aus. Ihre Geschichte ist vielleicht nicht einfach nur die Legende einer Frau aus armen Verhältnissen, sondern die Legende einer ganzen Gesellschaftsschicht. Ich war an der Großen Mauer und auch in dem Tempel, welcher der treuen Meng geweiht ist, doch sie selbst habe ich nicht gesehen. Aber wer hat das schon? Im Roman habe ich versucht, ihr ein Band zu geben, das die 2000 Jahre in Zeit und Raum überspannt und an dem sie mich mit sich führt - denn genau wie sie wollte auch ich zur Großen Mauer gehen! |
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