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Einführung Vorbemerkungen zur Neuauflage Die Neuauflage der "Medizinischen Ethik" wurde erforderlich, weil die erste Auflage in der deutschen Ausgabe seit längerem vergriffen ist. Die Gliederungsstruktur, die Leitgedanken und Themen der ersten Auflage aus dem Jahr 2003 sind in der Neuauflage beibehalten worden. Aufgrund der medizinethischen Debatten der zurückliegenden Jahre erschien es jedoch sinnvoll, den Text der ersten Auflage vollständig zu überarbeiten, aktuelle Entwicklungen aufzugreifen und eine Reihe von Themen ausführlicher zu entfalten. Die Überarbeitung findet auch darin ihren Niederschlag, dass der Untertitel des Buches abgeändert wurde. Er lautete im Jahr 2003: "Kulturelle Grundlagen und ethische Wertkonflikte heutiger Medizin". Die Neuauflage erscheint jetzt mit dem Untertitel "Gesundheitsschutz - Selbstbestimmungsrechte - heutige Wertkonflikte". Der Sache nach war schon für die erste Auflage das Grundrecht auf Gesundheitsschutz und gesundheitliche Versorgung ein tragender Leitgedanke gewesen, sowohl im Grundlagenteil des Buches als auch in den materialethischen Erwägungen. Dies wird aus dem damaligen Vorwort ersichtlich, das nachfolgend wieder abgedruckt ist. Die Neuauflage knüpft hieran an und vertieft die Gesichtspunkte, die bereits in der ersten Auflage eine Rolle spielten, im Licht neuerer ethischer, rechts- und gesundheitspolitischer Diskussionen. Gleichzeitig gehört, wie schon in der ersten Auflage, das Grundrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung zu den normativen Prinzipien, auf die die hier vorgelegte Medizinethik besonderen Wert legt. Nun sind in den letzten Jahren gegen die Geltung und Aussagekraft des individuellen Selbstbestimmungsrechts für Medizin und Gesundheitswesen wiederholt Einwände erhoben worden. Manchmal wurde nicht nur als Ergänzung, sondern geradezu als Alternative der Begriff der Fürsorge genannt. Aus der Sicht des Verfassers ist das Grundrecht auf Selbstbestimmung freilich unverändert gehaltvoll; es bleibt unhintergehbar. Die Vorbehalte, die ihm entgegengehalten wurden, lassen sich entkräften. In diesen gedanklichen Zusammenhang ist im Übrigen ein Leitmotiv einzuordnen, das die hier vorgelegte Medizinethik durchgängig prägt, nämlich die patientenorientierte oder "patientzentrierte" Medizin: Es gilt, die persönliche Entscheidungskompetenz von Patientinnen und Patienten zu stärken und sie - im Sinn einer Ethik des Dialogs - durch ärztliche und auch durch psychosoziale Beratung zu unterstützen. Insgesamt ist das hier vorliegende Buch dem Anliegen verpflichtet, das Grundrecht auf Gesundheitsschutz, das persönliche Selbstbestimmungsrecht und die Idee sozialer sowie partizipativer Gerechtigkeit miteinander zu verknüpfen und sie für medizinethische Abwägungen fruchtbar zu machen. Schwerpunktmäßig wird, genauso wie in der ersten Auflage, immer wieder auf den Gesundheitsschutz und die gesundheitliche Versorgung von Kindern der Blick gelenkt. Es gehört zur Sachlogik medizinethischer Reflexion, dass der Alltag der Medizin, strukturelle Probleme des Gesundheitswesens, rechts- und gesundheitspolitische Herausforderungen sowie die hohe Dynamik des medizinisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts auf Grundsatzüberlegungen zurückwirken. Daher fließen neuere medizinische Handlungsansätze (z.B. prädiktive Medizin) oder Verteilungsprobleme des Gesundheitssystems (Rationierung, Priorisierung) bereits in den ersten Teil des Buches ein, der Grundsatzfragen und ethische Prinzipien erörtert (Teil A: "Medizinethik heute: Kulturelle Grundlagen - normative Leitlinien"). Danach befasst sich der zweite Teil mit konkreten Entscheidungskonflikten, die sich im Umgang mit dem beginnenden menschlichen Leben, in der Transplantationsmedizin und angesichts des Lebensendes stellen (Teil B: "Ethische Wertkonflikte an den Grenzen des Lebens"). Die Neuauflage greift aktuelle Sachverhalte auf - unter ihnen die Novellierung des Stammzellgesetzes im Jahr 2008, neue Optionen der Entwicklung und Prüfung von Medikamenten (z.B. zur Embryotoxizität), die Aussicht, künftig auf induzierte pluripotente Stammzellen zugreifen zu können, den medizinischen Fortschritt bei ärztlich assistierter Fortpflanzung (u.a. die Möglichkeit, nach künstlicher Befruchtung Mehrlingsschwangerschaften zu vermeiden), die jüngste Debatte zum Transplantationsgesetz oder die palliative Sedierung als heutige Form von Sterbehilfe. Auf diese Weise werden im zweiten Teil des Buches die normativen Leitgedanken - Gesundheitsschutz, Selbstbestimmungsrecht, Partizipationsgerechtigkeit - und das Postulat, dass gegenwärtig eine Steigerung ethischer Verantwortung geboten ist, an Problemfeldern verdeutlicht, zu denen in den kommenden Jahren weiterhin Diskussionsbedarf bestehen wird. Der Anmerkungsteil und das Literaturverzeichnis sind möglichst knapp gehalten. Dabei wurde darauf geachtet, durch die Beleg- und Literaturangaben das breite Spektrum von Positionen abzubilden, die sich in der Medizin- und Bioethik finden. Die Belege wurden so ausgewählt, dass sich für Interessierte zugleich ein Zugriff auf weitere Literatur erschließt. Über die ethische und juristische Literatur hinaus nennen der Anmerkungsteil bzw. das Literaturverzeichnis medizinische Forschungsliteratur, da deren Sichtung und Aufarbeitung für die Urteilsbildung der Medizinethik inzwischen unerlässlich geworden ist. Bonn, September 2008 Hartmut Kreß Vorwort zur ersten Auflage Der Begriff "Medizinethik" entstammt der Aufklärungsepoche. Er ist auf das vor zweihundert Jahren, nämlich im Jahr 1803 erschienene Werk "Medical Ethics" des englischen Arztes Thomas Percival (1740-1804) zurückzuführen. Die Aufklärungsepoche brachte ein medizinethisches Denken auf den Weg, das am Berufsethos und den Pflichten des Arztes, an der Person, Biographie und den Rechten der einzelnen Patienten sowie darüber hinaus an den speziellen Belangen verschiedener Menschengruppen orientiert war. Namentlich waren es Kinder, Behinderte, unheilbar Kranke und Sterbende, auf deren Situation und deren besondere Belange die Medizinethik der Aufklärung ganz neu den Blick lenkte. Hierdurch setzte sie humane Impulse, die medizin- und kulturgeschichtlich wegweisend geworden sind. Zweihundert Jahre später hat die gegenwärtige medizinische Ethik die Alltagsbedingungen des heutigen Gesundheitssystems und den Wissenszuwachs der modernen Biotechnologie aufzuarbeiten. Für ihre Urteilsbildungen kann sie an die Prinzipien anknüpfen, die in der jüdisch-christlichen Tradition und in der abendländischen Philosophie verwurzelt sind. Gleichzeitig steht sie vor der Aufgabe, die überlieferten ethischen Prinzipien gegenwartsbezogen fortzuentwickeln und aus jetziger Einsicht heraus Verantwortung für Werte und für Normen zu übernehmen, die dem Fortschritt der Biotechnologie und den Strukturen des modernen Gesundheitswesens gerecht werden. Das vorliegende Arbeits- und Studienbuch beleuchtet in Teil A zunächst normative und kulturelle Grundlagen heutiger Medizinethik. In Teil B werden dann aktuelle medizinische Wertkonflikte erörtert. Zu den normativen Leitgedanken, auf die das Buch den Akzent legt, gehört das "Recht auf Gesundheit" bzw. das "Recht auf Schutz der Gesundheit". Dieses Menschenrecht auf Gesundheitsschutz ist seit der Aufklärung und dann insbesondere seit dem 19. Jahrhundert - damals vor allem von dem Mediziner Rudolf Virchow (1821-1902) - auf den Begriff gebracht worden. Inzwischen hat es in Menschenrechtskonventionen und in zahlreiche Rechtsdokumente Eingang gefunden. Ihm lassen sich weitere Grundwerte zuordnen, die für die moderne Medizinethik tragend sind, nämlich die Personwürde, die Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte der Patienten oder die Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit im Umgang mit medizinischen Ressourcen. Der erste Buchteil (Teil A) entfaltet diese normativen Gesichtspunkte. Zugleich werden in Teil A die Umbrüche angesprochen, die sich im Verständnis von Gesundheit und Krankheit und in der Gesundheitsversorgung derzeit ereignen. Einen immer höheren Stellenwert gewinnt die gesundheitliche Vorsorge und Vorbeugung, d.h. die präventive Medizin. Traditionell standen die nachsorgende Behandlung und Heilung im Zentrum der Medizin (kurative Medizin); zukünftig wird die präventive Medizin eine große Bedeutung erhalten. In diesem Zusammenhang behandelt das Buch unter anderem die prädiktive genetische Diagnostik. Davon abgesehen verdient das Recht auf Gesundheit auch deshalb Beachtung, weil es gruppen- und altersspezifische Aufgaben der Medizin, d.h. die speziellen Belange von Kindern, psychisch Kranken, alten Menschen oder anderer Patientengruppen ins Licht rückt. Exemplarisch hebt das hier vorliegende Buch vor allem die Interessen von Kindern hervor; die medizinethische Relevanz des Kindeswohls stellt insofern ein Querschnittsthema des Buches dar. Es war im Übrigen wiederum die Ethik der Aufklärung gewesen, die für die Medizin das Thema der Kindheit entdeckte und erstmals die Besonderheiten der Kinderheilkunde erfasste. In Deutschland waren Überlegungen von Christoph Wilhelm Hufeland (1762- 1836) bahnbrechend. Ihm zufolge seien "ein Drittel aller Kranken" Kinder, deren Krankheiten man "besonders studieren" müsse. In seinem "Enchiridion medicum" (4. Aufl. 1838) hieß es: "Man kann ein sehr guter Arzt für Erwachsene sein und man ist ein schlechter Kinderarzt. Denn es ist nicht bloß, wie einige glauben, die Verminderung der Dosen, die ihn macht, sondern andere Semiotik, anders modifizierte Pathologie und Therapie". Deshalb müsse man den "eigentümlichen Charakter" sehen, "den das Kindesalter allen Krankheiten ~ und der ganzen Praxis in diesem Zeitpunkt" gibt.1 Manche Forderungen der damaligen Kinderheilkunde sind medizinisch und gesundheitspolitisch bis heute nicht eingelöst. In seinem zweiten Teil (B) informiert das Buch ausführlich über Themen, die in den gegenwärtigen Kontroversen zur Bioethik im Vordergrund stehen. Hierzu gehören der Umgang mit dem Lebensbeginn (Embryonenforschung; Fortpflanzungsmedizin) und mit dem Lebensende (Sterbehilfe) oder die Transplantationsmedizin. In diesen Bereichen sind die Dynamik der naturwissenschaftlichen Forschung so groß und die medizinischen Entwicklungen so sehr im Fluss, dass die ethischen Beurteilungen ebenfalls vorläufig und revisionsfähig bleiben müssen. Nicht nur die Ethik, sondern auch die Rechts sowie Gesundheitsstrukturpolitik stehen in dieser Hinsicht vor dauerhaften gedanklichen Herausforderungen. Zu aktuellen Wertkonflikten der Biomedizin, darunter der embryonalen Stammzellforschung, hat der Verfasser in den zurückliegenden Jahren wiederholt Stellung genommen. Auch in diesem Buch werden über die Sachdarstellungen hinaus Argumente der ethischen Abwägung vorgetragen, um den Leserinnen und Lesern Anregungen für die eigene Urteilsfindung zu vermitteln. Angesichts der heutigen biomedizinischen Wertkonflikte sind Güterabwägungen geboten, die zum Teil neuartig und kulturell unvertraut sind. Dabei gilt es, zwischen unterschiedlichen Werten - dem Lebensschutz und dem Embryonenschutz, der medizinischen Therapiepflicht, der Gewissensfreiheit, der Forschungsfreiheit u.a. - einen möglichst schonenden Ausgleich herbeizuführen. Bonn, Mai 2003 Hartmut Kreß |
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